Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
Vom Netzwerk:
Unterarm bewegten sich wie in einem Luftzug. Und sie schienen zu wachsen.
    „Non! Rokan, ne le fais pas!“ Chloé stand am Fuß der Treppe, klammerte sich am Geländer fest. „Rokan, du solltest jetzt gehen“, sagte sie. „Es ist Zeit.“
    „Es ist Zeit, Chloé. Es ist schon lange Zeit. Wie viele Jahre willst du noch warten? Zehn? Hundert? Es bricht auseinander, wie hätten sie sonst den Weg hierher finden können? Wenn wir jetzt nicht …“
    „Sei still!“ Sie hielt sich dir Ohren zu, wie ein Kind. Fast hätte ich gelacht, aber sie atmete schwer und aus ihren Blicken sprach Angst.
    Rokan ging die Treppe hinunter, blieb vor ihr stehen und flüsterte ihr etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Dann ging er und Chloé wischte sich die Hände an der Schürze ab.
    „Kommst du zum Essen, Catrin?“ Ihre Stimme klang dünn. Ohne meine Antwort abzuwarten, verschwand sie in der Küche. Ich nahm das Buch von der Treppenstufe und schlug es auf.

    04. Juni
    Es sind so viele. Sie beobachten uns. Das Ding tobt und kreischt, wenn die anderen Dinger in der Nähe sind. Und sie antworten. Großer Gott, sie antworten. Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum schreiben kann. Ich wage es nicht mehr, Dich in den Garten zu bringen.
    Die Frau des Schulmeisters hat sich nach Deinem Befinden erkundigt. Sie wollte Dich sehen. Sie ist misstrauisch, aber noch kann ich sie beschwichtigen.
    Deine Mutter ist bettlägerig. Sie öffnet nicht einmal mehr die Vorhänge und weigert sich Dich anzusehen. Sie schwindet. Sie vegetiert nunmehr in den Schatten ihres Zimmers und ist selbst nur noch ein Schatten. Der Doktor hat sie zur Ader gelassen, doch er kann sich ihre Krankheit nicht erklären. Wie sollte er auch? Ich fürchte das Schlimmste.

    Etwas schepperte zu Boden und ich hörte Chloé aufschreien. Schnell steckte ich das Buch ein und rannte in die Küche. Ich fand die Wirtin auf dem Boden sitzend, das Gesicht in den roten Händen vergraben. Ihre Schultern zuckten, neben ihr lagen ein Topf und Kartoffeln auf dem Boden verstreut.
    „Chloé! Du hast dich verbrüht!“ Ich fand kein kaltes Wasser und riss das Fenster auf, schöpfte mit einer Holzschale Schnee von der Fensterbank und steckte Chloés Hand hinein. „Das muss behandelt werden“, sagte ich, doch Chloé schüttelte den Kopf.
    „Geh zu Rokan.“ Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint. „Er hat recht, es ist Zeit.“
    „Kann ich dich wirklich allein lassen?“
    „Mir geht es gut. Es ist nicht die Verbrennung, die mich schmerzt. Geh und findet ein Ende.“
    Ich schloss das Fenster. „Ich werde später nach dir sehen“, sagte ich.
    Chloé nickte mir zu und ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich nach draußen ging.
    Die schmale Sichel des abnehmenden Mondes stand über dem Wald. Es war noch kälter geworden, der Wind schmerzte auf meinen Wangen. Die dichte Schneedecke glitzerte, als spiegelten sich unzählige Sterne darin.
    Im Gehen knöpfte ich meine Jacke zu und war froh, dass ich mir die Zeit genommen hatte, sie aus meinem Zimmer zu holen. Jemand hatte die Laterne vor Agnès‘ Haustür angezündet. War sie zurück? Ich rannte über den Dorfplatz. Die Tür war nur angelehnt und ich schob sie auf. Mein Herz klopfte laut. „Agnès?“ Keine Antwort. Das Zimmer lag genauso vor mir, wie ich es verlassen hatte. Ich hob das Bild des Kastanienbaums vom Boden auf und strich über die Äste. Dann steckte ich es in meine Tasche und machte mich auf den Weg zu Rokan.
    Auf Höhe der Kapelle hörte ich ein Knirschen hinter mir, doch in der Dunkelheit konnte ich nichts und niemanden entdecken. Ich beschleunigte meine Schritte und schlug den Weg zu Rokans Haus ein, als ein Lichtschimmer in einem der Kirchenfenster meine Aufmerksamkeit erregte. Ich ging auf die Kapelle zu. An der Seite des Gebäudes, die nahe dem Wald lag, befand sich ein zweiter Eingang. Eine unscheinbare Tür. Als ich meine Hand auf die Klinke legte fauchte ein Tier und meine Nackenhärchen stellten sich auf. Und dann war auch wieder das Knirschen zu hören, noch etwas lauter. Näher. Ich drückte die Klinke nach unten und zog an der Tür, die sich problemlos öffnen ließ.
    Der Geruch nach Staub und Verbranntem kratze in meinem Hals. Ich unterdrückte ein Husten und lauschte an der Tür. Nichts. Kein Knirschen, kein Fauchen, draußen war alles ruhig und so sah ich mich um. Auf dem steinernen Altar brannte ein ganzes Meer von Kerzen. Kein Bild, kein Kreuz schmückte die weißen Wände der Kirche.

Weitere Kostenlose Bücher