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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Ich hob das Tagebuch auf und wickelte es in ein Tuch, schob es unter mein Kopfkissen. Dann klopfte es an der Tür und Chloé steckte den Kopf herein.
    „Ach, du bist da! Geht’s dir gut, meine Süße? Du hast dich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Möchtest du zum Abendessen herunter kommen?“ Sie setzte sich neben mich auf die Bettkante, nahm meine Hand. „Du brauchst eine Aufgabe. Es ist nicht gut, wenn man so viel Zeit zum Grübeln hat.“ Sie strich über meine Stirn. „Und du willst doch keine Falten bekommen, nicht wahr?“
    Ich versuchte zu lächeln. „Ich komme gleich, lass mir nur einen Moment Zeit, okay?“
    „Natürlich. Aber du solltest dich nicht hier oben vergraben. Und wir haben noch viel vorzubereiten. Das Fest der Wintersonnenwende steht bevor. Das wird dir gefallen.“ Sie blinzelte mir zu und ließ mich allein.
    Ich öffnete das Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien, einige Lücken hatten sich zwischen den Wolken aufgetan, durch die ein Streifen roten Himmels zu sehen war. Ich grub meine Hände in den Schnee auf dem Fensterbrett und rieb über mein Gesicht. Wer war der Mensch, der diesem Kind so etwas angetan hatte? Und was war aus dem Mädchen geworden?

12
    R okan lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, als ich aus meinem Zimmer trat. Unwillkürlich schlossen sich meine Finger um das Feuerzeug in meiner Tasche. 
    „Du hast etwas genommen, das nicht dir gehört“, sagte er. „Warum hast du mich nicht darum gebeten? Ich hätte es dir nicht verweigert.“
    Er trat aus dem Schatten und ich ging zwei Treppenstufen hinunter, so dass ich seinem Blick auf Augenhöhe begegnete. Dann holte ich das Feuerzeug heraus und streckte es ihm auf meiner offenen Handfläche entgegen. Er legte seine Hand auf meine und schloss meine Finger fest um den silbernen Gegenstand. „Behalte es“, sagte er. „Es wird seinen Grund haben, dass du es gefunden hast.“
    Ich atmete erleichtert aus, setzte mich auf die Treppe, die Hand fest um den Gegenstand geschlossen, der mir half, nicht zu vergessen.
    „Ich glaube, es ist an der Zeit, dir etwas zu erzählen.“ Rokan ließ sich neben mir nieder, sein Knie streifte meinen Oberschenkel. Ich roch den Wind und den Schnee an seinen Kleidern. Er taxierte mich von der Seite. „Vielleicht bist du diejenige, auf die ich schon seit so langer Zeit warte, auch wenn es unwahrscheinlich erscheint.“
    „Du wartest sicher nicht auf mich.“ Ich hörte Chloé in der Küche werkeln. Der Duft nach Gebratenem zog zu mir herauf. „Ich gehöre nicht hierher, nicht wahr? Ich fühle es, aber ich kann mich nicht erinnern.“ Ich betrachtete sein makelloses Gesicht, die dunkle Haut und diese Augen, die wie geschliffene Aquamarine darin eingebettet waren. „Hilf mir, ich verliere mich, ich vergesse und weiß nicht einmal, was es ist.“
    „Es ist dieser Ort.“
    „Das Dorf? Was meinst du damit?“
    Er hob die Hände in einer abwehrenden Geste. „Die Wintersonnenwende steht bevor.“
    „Chloé hat mir von einem Fest erzählt.“
    „Wieder und wieder“, sagte er und sah plötzlich alt aus, auch wenn sein Gesicht keine einzige Falte aufwies. „Magst du Geschichten?“
    Ich nickte und dachte an Großmutter Rose.
    „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dir diese Geschichte zu erzählen, aber es ist an der Zeit, sie zu erzählen.“ Er nahm seinen Mantel von den Schultern und legte ihn neben sich auf die Stufen, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer. „Diese Geschichte beginnt im Morgengrauen, wie so viele Geschichten. Und wie viele Geschichten könnte sie mit ‘Es war einmal‘ beginnen, aber richtiger ist: ‘Es wird einmal gewesen sein‘. Diese Geschichte bleibt wandelbar wie ein Chamäleon, denn das Ende ist noch nicht geschrieben worden.
    Das Fest der Wintersonnenwende stand bevor, genau wie jetzt, das Jahr spielt keine Rolle, denn Zeit spielt keine Rolle. Und just an diesem Tag wird es einmal gewesen sein, dass ein Mädchen etwas findet, das die Welt, wie sie die Menschen bis dahin kannten, verändert, dreht, durcheinanderwirbelt, in tausend Stücke bricht und wieder verbindet. Und so wie bei einem irdenen Krug die Bruchstellen sichtbar bleiben, auch wenn man ihn mit aller Sorgfalt zusammensetzt, so bleiben auch diese Bruchstellen sichtbar. Eine Haarsträhne, die eine Nuance dunkler schimmert; das stete Klicken des Sekundenzeigers einer Taschenuhr, das ein einziges Mal aus der Reihe hüpft; der Klang der neuen Kirchenglocke, der beim dritten Schlag zur

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