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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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zwölften Stunde von Dur zu Moll wechselt. Dinge so winzig wie Froschlurche im Larvenstadium, aber für den aufmerksamen Beobachter so klar, wie ein Bergbach vor der Schneeschmelze.
    Ich habe mich oft gefragt, ob die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten, wenn ich es wagen würde, das Ende der Geschichte zu Papier zu bringen. Aber dafür steht zu viel auf dem Spiel, für mich und meinesgleichen. Ich könnte meinem Bruder nicht mehr in die Augen sehen, wenn dem Mädchen durch meine Unachtsamkeit ein Leid geschähe. Ein falsches Wort, ein unbedachtes Adjektiv und alles könnte verloren sein. Aber ich weiß so sicher wie krâ, unser aller Vater, die Geschicke seiner Söhne und Töchter im Auge behält, dass der Tag kommen wird, an dem jemand die letzte Seite mit Worten füllt und das Ende dieser Geschichte schreibt - sei es zum Guten oder Schlechten.“ Bei diesen Worten kniff Rokan die Augen zusammen, starrte mir ins Gesicht, als wollte er in meinen Gedanken lesen, oder als suchte er nach Hinweisen.
    Das Mädchen, der Vater. Das konnte kein Zufall sein. Ich sprang auf und rannte in mein Zimmer, holte das Tagebuch unter meinem Kissen hervor und wickelte es aus dem Tuch. Dann ging ich zurück zu Rokan. „Kennst du das?“ Ich hielt ihm das Buch hin. Er riss es mir förmlich aus den Händen und begann darin zu blättern, die Stirn in Falten gelegt. Ich konnte das Knirschen seiner Zähne hören. Nach einer Weile blickte er auf. „Wo hast du das her?“
    „Gefunden … Darin geht es um das Mädchen aus deiner Geschichte, nicht wahr?“
    Rokan hatte die Nase schon wieder in das kleine Buch gesteckt und antwortete nicht. Dann schlug er es abrupt zu und drückte es zwischen seinen Händen zusammen. „Dieser Dummkopf! Dieser verdammte …“ Er rieb sich über die Augen.
    „Es sind die Bilder“, sagte ich. „Die Geschichte. Das Mädchen. Das ist nicht real. Hat Agnès die Geschichten geschaffen, indem sie sie malte?“
    „Realität ist das, was man glaubt zu sehen, mehr nicht.“ Er legte das Buch auf seine Knie. „Agnès hat einen Weg gefunden, die Realitäten zu verbinden, sie festzuhalten. Das ist schwer zu erklären.“
    „Kannst du mir helfen sie wiederzufinden?“
    „Deine Realität? Oder die unsere?“
    Ich setzte mich wieder neben ihn und stützte das Kinn in meine Hand, kratzte mit dem Fingernagel ein loses Stück Putz von der Wand und zerrieb es zwischen den Fingern. „Die in der Agnès existiert.“ Ich klopfte den Staub von meinen Kleidern und sah Rokan an. „Das ist meine Realität. Die einzige.“
    „Ich weiß nicht wo der Zusammenhang ist, aber es muss einen geben.“
    „Wie geht deine Geschichte weiter?“, fragte ich. „Was ist aus dem Mädchen geworden?“
    „Darko, mein Bruder, folgte dem Mädchen schon seit geraumer Zeit, bis ich bemerkte, warum seine Blicke so oft nach innen gekehrt waren. Ich schalt ihn einen Dummkopf. Es schien mir unmöglich, dass diese beiden Menschen, die dort auf dem Hügel inmitten ihrer Mauer aus mannshohen Hecken lebten, ein Kind hervorgebracht haben könnten, das die Gabe in sich trägt. Nichts wies darauf hin, dass auch nur ein Tropfen unseren Blutes durch ihre Adern floss. Doch ich hatte mich getäuscht und das nicht zum letzten Mal.
    Mein Bruder zeigte sich dem Kind in seiner wahren Gestalt. Und sie spürte die Kraft, die in ihr schlief, aber sie konnte nicht damit umgehen, konnte sie nicht bündeln. Also versuchte Darko ihr zu helfen, etwas von der Leidenschaft, die es für die Transformation braucht, auf sie zu übertragen. Und gerade, als ihrer beider Leib und Seelen verbunden waren, entdeckte ihr Vater die beiden, die in diesem Augenblick nicht mehr zwei Wesen waren, sondern eines und unendlich viele. Er trennte sie, riss sie auseinander, zerschnitt ihre Verbindung. Und dann zerbrach alles; alles, was die Realität der Menschen ausmachte. Das Universum, wie sie es kannten, bekam Risse, unbedeutende, mit bloßem Auge kaum zu sehende Risse. Aber von diesem Tag an, konnten sie uns erkennen. Und so wie sie alles fürchteten, das sie nicht kannten, fürchteten sie sich auch vor uns, begannen uns zu jagen und zu töten.“ Seine Stimme brach, er räusperte sich. „Es sind nicht viele übrig geblieben. Nur eine Handvoll.“
    „Was meinst du damit, sie konnten euch erkennen?“ Ich sah seine kleinen wulstigen Hände an und zu meiner Überraschung lachte er.
    Er schob den Ärmel seines Hemdes nach oben und schloss die Augen. Die dunklen Härchen auf seinem

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