Koerper, Seele, Mensch
1. Praxisalltag:
Patienten, Operationen, Bürokratie
Eine Frau kommt in meine Praxis, an Krücken humpelnd. Ihr rechter Fuß ist bandagiert, sie kann kaum auftreten. Man sieht, daß sie Schmerzen hat. Während der Untersuchung ihres dick geschwollenen rechten Sprunggelenks erzählt sie, wie sie bei der Arbeit auf einer Treppe ausgerutscht und mit dem Fuß umgeknickt sei. Sie könne das nicht verstehen: Sie sei schon tausend Mal über diese Treppe gelaufen, nie sei etwas passiert. Beim Röntgen zeigt sich, daß die Knochen unverletzt sind, aber ein Band am Sprunggelenk ist wahrscheinlich angerissen. Schwellung und Schmerzen sind so stark, daß eine Gipsschiene angelegt werden muß, ein Unterschenkelliegegips. So ein Fall kommt mehrmals täglich in meiner Praxis vor – ganz normale Chirurgie, ein häufiges Verletzungsmuster, eigentlich nichts Besonderes.
Die Krankenschwester bereitet alles für den Gipsverband vor. Da die Patientin eine Zeitlang an Krücken gehen wird, werde ich ihr Spritzen gegen die Gefahr der Thrombose, einer Venenverstopfung am Bein, verordnen müssen. Kann ich das überhaupt, habe ich mein Arzneimittelbudget nicht längst überschritten? Vielleicht haben wir ja noch Ärztemuster im Kühlschrank.
Als Chirurg verbringt man mit seinen Patienten manchmal erstaunlich viel Zeit, so zum Beispiel beim Verbandswechsel, beim Gipsen, beim Operieren. Dabei kann man auch ins Gespräch kommen. Ich frage die Patientin nach ihrem Arbeitsplatz, denn ohne Krankmeldung wird es nicht gehen. Die Patientin ist jedoch ganz mit sichselbst beschäftigt, sie schüttelt ununterbrochen den Kopf, wie konnte ihr das nur passieren, es ging alles so schnell. Währenddessen höre ich von der Anmeldung her einen unguten Wortwechsel. Es ist schon der dritte Patient heute, der sich lautstark über die 10 Euro Praxisgebühr ärgert, die er doch gestern schon beim Ärztlichen Notdienst bezahlt habe.
Wir beginnen mit dem Verband. Zuerst zieht die Schwester über den Unterschenkel einen Stoffstrumpf. Die Patientin erzählt dabei von dem Museum, in dem sie arbeite und in dem zur Zeit sehr viel los sei, eine neue Ausstellung werde vorbereitet. – Jetzt werden der Unterschenkel, das Sprunggelenk und der Fuß mit einer dünnen Lage Watte gepolstert. – Sie liebe ihre Arbeit, ihr Chef sei sehr nett, als seine Sekretärin habe sie schon sehr viel gelernt über Menschen, über Künstler, über Kulturgeschichte. – Nun wickeln wir eine Lage Kreppapier auf. Immer wieder zuckt die Patientin vor Schmerzen zusammen, wenn ich das Bein nicht vorsichtig genug halte oder bewege. – Manchmal würde sie gern noch einmal ein Studium anfangen, am liebsten Kunstgeschichte. – Und jetzt kommt der Gips.
Unterdessen habe ich mit der einen Hand drei Rezepte, zwei Krankmeldungen und eine Verordnung für Krankengymnastik unterschrieben, mit der anderen Hand halte ich weiter das Bein, die weiche, nasse Gipsschiene wird mit einer Mullbinde angewickelt. Von der Anmeldung her ruft man mir zu, man habe eine Krankenhausambulanz am Telefon, von dort wolle man noch einen Patienten mit einem Abszeß schicken, ob das zu machen sei? Ich überdenke kurz unseren heutigen OP-Plan und rufe quer durch drei Zimmer zurück: »Kann kommen!«Fast wäre mir in dem Trubel entgangen, daß die Patientin plötzlich schweigt. Ich schaue auf. Sie ist ganz in sich gekehrt, sagt auf einmal: »Natürlich! Das konnte ja nicht gutgehen!« und schüttelt den Kopf.
Der Gips wird jetzt ganz warm, fast heiß, er bindet ab, wie man sagt. Aus dem OP läßt mir mein Kollege ausrichten, ich solle so bald wie möglich kommen, er brauche Assistenz. Aber noch kann ich hier nicht weg, der Gips ist noch nicht fertig. Er wird erst langsam hart. Und meiner Patientin ist unterdessen etwas klargeworden. Ihr Chef hatte überraschend eine Abteilungssitzung angesetzt, weil sich Probleme mit einem Sponsor für die kommende Ausstellung ergeben hatten. Natürlich wollte sie ihrem Chef alles recht machen und bereitete die Unterlagen perfekt vor. Und dann war die Sitzung vorbei, und ihr fiel mit Entsetzen ein, daß ihre Kinder schon seit einer Stunde bei der Tagesmutter darauf warteten, abgeholt zu werden. Sie hastete über die Treppe, sie verpaßte eine Stufe, und es war geschehen.
Mittlerweile ist der Gips endlich hart genug, ich kann das Bein der Patientin loslassen. Ihre Anspannung ist wie weggeblasen. Sie ist jetzt ruhig, fast froh. Die Erklärung für den Fehltritt hat ihr ihre Sicherheit
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