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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Realität auf.“
    „So einfach ist es leider nicht.“ Der Doktor drehte an einem Regler und der Scriptograph ratterte etwas langsamer, dann nahm sie einige Blätter vom Boden und reichte sie mir. „Die Realität entsteht im Kopf des Mädchens, die Bilder machen sie sichtbar. Aber sie ist zu schwach, um sie konstant aufrecht zu erhalten, die Welten beginnen zu zerbröckeln und sich aufzulösen, genau wie ihr Körper.“
    „Das ist Wahnsinn.“ Ich schüttelte den Kopf und die Schmerzen wurden schlimmer. „Das ist das verrückteste was ich jemals gehört habe. Was hat denn die Welten zusammengehalten, bevor das Mädchen diese Bilder malte?“
    „Bevor die Risse entstanden, hielt die Welt sich selbst. Da gab es keine Anomalien im Zeitgefüge, keine anderen Welten, die in unsere gedrungen sind. Da war es einfach nicht notwendig, verstehen Sie?“
    Der Elektrokardiograph gab einen hohen Warnton von sich. Die Herztöne des Mädchens beschleunigten sich. „Verdammt“, zischte der Doktor und zog eine Spritze mit heller Flüssigkeit auf, injizierte sie dem Mädchen, dessen Hände unablässig zuckten, als ständen sie unter Strom. Ich strich ihr über den Kopf und spürte eine Träne meine Wange hinab rinnen. Ein weicher Flaum wuchs spärlich zwischen den Kabeln und Narben auf ihrem Schädel. I hre Haare waren rot. Kupferrot.

    „ G ib mir noch ein Bier, Chloé!“ Er schlug den Krug auf den Tresen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    „Es ist genug, Cava lier , geh und schlaf deinen Rausch aus.“
    „Warum? Warum sollte ich das tun?“ Der Barhocker kippte um, als er aufsprang; die Hände zu Fäusten geballt. „Damit ich klarer sehen kann, was für ein Narr ich bin?“
    Nur zwei Kerzen er hellten spärlich den Schankraum, ihre Flammen spiegelten sich in seinen Augen und er funkelte die Wirtin zornig an . Sie wich einen Schritt zurück. „Was hast du denn erwartet?“, sagte sie. „Dass du ausradieren kannst, was geschehen ist? Einfach wieder von vorne anfangen und alles Leid und 100 Jahre Hoffnungslosigkeit lösen sich in Rauch auf?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Das Mädchen ist ein Mensch, Etienne, kein Ding, das man kauft um ein anderes zu ersetzen, weil man es zerbrochen hat.“
    Er presste die Fäuste auf seine Augen. Seine Schultern zitterten. „Ich dachte, es wäre vorbei“, flüsterte er. „Ich dachte, wir könnten neu anfangen. Aber es war alles umsonst. “
    Sie ging um die Theke herum, legte ihre Hände auf seine Arme. „So funktioniert die Welt nicht. F ür alles gibt es einen Grund und auch Irina ist nicht grundlos hier.“ Sie zog seine Hände vom Gesicht und strich ihm die feuchten Haare aus der Stirn. „Aber sie ist nicht Agnès, verstehst du? Agnès ist tot, du selbst hast sie sterben sehen. Du erinnerst dich doch? Wir haben sie neben der Kapelle begraben, unter dem alten Kastanienbaum.“
    Ein Schluchzen schüttelte ihn . „ Ich habe sie getötet“, sagte er. „Ich habe mein Versprechen gebrochen.“
    „Du hattest Angst, wie wir alle. Du hättest sie nicht retten können.“
    „ Aber sie ist zurückgekehrt “ , sagte er.
    „Ist sie das wirklich? Erinnere dich! S ieh nicht nur, was du sehen willst. Du weißt doch, dass Jean Claude das Kind im Moor gefunden hat , als Agnès schon viele Jahre tot war . Und Marie gab diesem Kind Agnès‘ Namen . D as war ein Fehler, das hätte sie nicht tun dürfen. Aber es war nur ein Name. Sie war eine andere. Und du weißt auch das. Ganz tief in dir drinnen, weißt du es.“
    Schwankend beugte er sich hinab und hob den Hocker auf, stellte ihn zurück an seinen Platz und setzte sich. „Bitte“, sagte er. „Bitte, gib mir noch ein Bier, Chloé. Lass mich trinken, bis ich vergessen kann , was ich getan habe.“
    „Das wird nichts ändern. Es vorbei. Wir werden sterben und ich bin froh, dass es endlich soweit ist.“ Sie zapfte seinen Krug voll und schob ihn zu ihm hin . „Hör auf, in der Vergangenheit zu graben. Du schaufel s t ihr Grab jeden Tag aufs Neue. Lass sie endlich in Frieden ruhen.“

    I ch saß auf der Liege und starrte meine Fingerknöchel an . Hörte, wie der Doktor an den Geräten schaltete. Es piepste und surrte und der Scriptograph ratterte. Hin und wieder warf ich einen Blick auf das Mädchen. Ich konnte sie nicht bei ihrem Namen nennen. Jeder Buchstabe stach wie Nadeln, jede Silbe bohrte sich schmerzhaft in mein Herz.
    Warum war sie zu mir gekommen? Hatte sie nach mir gesucht oder war es Schicksal

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