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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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gewesen? Zufall? Und spielte das eine Rolle? Dieses Kind war nicht die Frau, die ich gekannt hatte. Ich lachte auf. Gekannt? Sie war ja nicht einmal eine wirkliche Person gewesen. Nur ein Trugbild, das sich in Rauch aufgelöst hatte.
    War überhaupt irgendetwas wirklich gewesen? War das hier die Wirklichkeit? Dieser Raum, der Doktor, die Maschinen … diese grässliche Uhr, die mich ständig anzustarren schien?
    Was würde geschehen, wenn ich den Papierhaufen einfach anzündete? Unwillkürlich tastete ich nach dem Feuerzeug. Nein. Das hatte ich ihr gegeben, bevor wir aufgebrochen waren.
    Jakur stupste mich mit dem Schnabel an der Schulter an . Ich strich über seinen Kopf und er hüpfte auf meinen Arm. „Du bist real“, sagte ich. „Oder nicht?“
    Und mein Leben? Die Geschichten, Großmutter, Lizzie. Hatte ich das tatsächlich erlebt? Ich schüttelte den Kopf, ignorierte den Schmerz, der wie Hammerschläge auf Eisen in meinem Schädel dröhnte. „Nein“, sagte ich laut. „Ich werde nicht verrückt. Ich bin nicht verrückt, Jakur. Nichts, was sich so real anfühlt, kann unecht sein.“
    Ich stieg über die Papiere und kniete mich neben den Stuhl, nahm vorsichtig ihre Hand, die schmal und zerbrechlich und leblos auf der Lehne lag . „Warum bist du zu mir gekommen?“, flüsterte ich und legte meine Stirn auf ihren Handrücken. Kühl und beruhigend. „Was willst du von mir?“ Das Piepen des Elektrokardiographen wurde lauter. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ein Uhu schrie. Ich zuckte zurück, ließ ihre Hand los und ihr Herzschlag kehrte zurück, zu dem gleichförmigen Piepen, das neben dem Rattern der Maschinen kaum zu hören war.
    Der Doktor sah mich an und senkte die Augen. „Noch vier, vielleicht fünf Tage“, sagte sie. „Dann ist es vorbei.“
    „Was wollen Sie von mir?“ Ich richtete mich auf, zupfte sie am Ärmel ihres Kittels.
    Sie atmete tief durch und zeigte auf die Schläuche, durch die das Blut gepumpt wurde. „ Sehen S ie den Kreislauf? “, sagt e sie. „Durch irgendetwas hatten sich Geist und Körper des Mädchens mit denen des Raben verbunden. Ihr Vater bat mich darum, sie zu trennen. Und ich dachte … ich war mir sicher, dass es möglich ist.“ Sie leckte über ihre Lippen, s chluckte. „Ich habe mich geirrt . Sie kollabierten. Und dann hat der Vater dies es Ding, diese Uhr, konstruiert. Wir haben einen Kreislauf hergestellt und konnten so ihre Leben verlängern. Aber jetzt … Ihre Zeit ist abgelaufen, wenn wir nicht …“ Sie ließ das Ende des Satzes unausgesprochen und sah mich an.
    „ Das nenne Sie Leben? “, flüsterte ich. „Und Sie wollen, dass ich Teil dieses … dieses Monstrums werde ? “ Die Uhr schien den Stundenzeiger zu einem Grinsen zu verziehen und ich fröstelte. „Sie wollen mich zu einer lebenden Toten machen.“
    Der Doktor zuckte hilflos mit den Schultern. „Es ist die einzige Möglichkeit“, sagte sie. „Sie sind der einzige Mensch, der sie … uns alle retten kann.“
    „Nein!“ Ich streckte abwehrend die Arme vor. „Das kann ich nicht. Unmöglich.“
    „Dann war’s das wohl“, sagte sie lakonisch. „Und das Opfer Ihres Freundes war umsonst.“
    „Meines Freundes?“ Ich sah zu Jakur, dann wieder zum Doktor. „Was meinen Sie … Rokan?“ Mir wurde schwarz vor Augen und ich hielt mich an der Liege fest. „Was haben Sie ihm angetan?“
    Der Doktor pustete sich eine Strähne aus der Stirn und ging zu der Sta nduhr, öffnete den Uhrenkasten und sagte: „Sehen Sie selbst. Es geht beiden ausgezeichnet. Die Körperfunktionen sind stabil, die Organe Ihres Freundes sind gesund und stark. Es ist ein absoluter Glücksfall, dass seine DNS der des anderen Raben so ähnlich ist.“
    Langsam ging ich um den Stuhl herum, strich dem Mädchen über den Arm, die Schulter, fühlte ihre spitzen Knochen unter meinen Fingern. „Ich kann nicht“, sagte ich. „Ich kann mir das nicht ansehen.“ Und doch ging ich in die Knie, hockte mich vor die etwa einen Meter hohe Öffnung und starrte in zwei Augenpaare, die kühl und farblos durch mich hindurch sahen. Herzschlag, Ticken, Herzschlag, Ticken. Und mein eigenes Herz, das hastig dazwischen schlug.
    Rokan erkannte ich sofort. Stark und stolz, trotz der Bewegungslosigkeit; teerschimmernde Federn. Daneben wirkte sein Bruder wie ein Gespenst. Ausgemergelt und abgez ehrt. Das Gefieder ausgeblichen. S chmutziges Grau. Sie hockten auf Plattformen, die wie Pendel leicht hin und her schwangen. Befestigt in

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