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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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schluckte die erneut aufsteigende Übelkeit hinunter. Aus ihrem Schädel ragten dünne Kabel, die zu dem blinkenden Apparat führten, aus dem nicht enden wollende Papierbahnen zu Boden ratterten.
    Neben dem Stuhl zeichnete ein antik aussehender Elektrokardiograph die Herztöne des Mädchens auf. Auch mit diesem Gerät war sie durch Kabel verbunden. Und weitere Kabel führten von dem Herzmesser zu einer riesigen Standuhr, deren Sekundenzeiger im Takt ihres Herzens voranruckte. Das Zifferblatt pulsierte. Lebendig. Der Uhrmacher wischte Staub von dem Metallgehäuse und zog die Schrauben nach.
    Ich kroch durch die Papiermassen. Näherte mich diesem Gebilde, das schlug und pumpte und atmete, als wäre es ein einziger, grotesker Organismus.
    Der Uhrmacher lachte. Kein fröhliches Lachen. Meine Arme knickten ein und ich rollte mich hinter dem Zahnarztstuhl auf dem Boden zusammen; presste meine Hände auf die Ohren. An der Rückenlehne rann ein Blutfaden hinab, benetzte die Papiere, malte Bilder darauf. Rosenblätter, Tautropfen. Schmetterlingsflügel. Der Doktor befestigte einen Schlauch an der Lehne und das Rinnsal versiegte. Träge floss das Blut durch den Schlauch, wurde durch die Uhr geleitet und zurück zu dem Mädchen. Ich hörte mich schreien und flüchtete ins Nichts. In ein Nichts, das sich in meinem Geist auftat und alles andere verschluckte.
    Ein rhythmischer Piepton. Ich klammerte meine Gedanken an den Ton, ließ sie gemeinsam durch meinen Gehörgang hüpfen. Dann ein Stich in meiner Armbeuge.
    „Sie hat sich bewegt, sehen Sie?“
    „Nur eine Spontanbewegung. Muskelzucken. Atemfrequenz und Puls sind konstant.“
    Wieder das unmenschliche Kreischen.
    „Stellen Sie es ruhig. Sofort!“
    Klackernde Schritte. Ein schwerer Gegenstand wurde über den Boden gerollt.
    Mein Herz raste, meine Muskeln zitterten. Das Piepen wurde schneller, unregelmäßiger, gipfelte in einen lang gezogenen hohen Ton.
    „Wir verlieren sie! Wir müssen abbrechen. Lassen sie das und holen Sie sie zurück, verdammt!“
    Mein Körper wurde in die Luft gerissen, bestand nur noch aus Schmerzen. Ich sog rasselnd Luft in meine Lungen.
    Blendend grelles Licht.
    „Gottseidank, sie ist wieder da … Wie viele Finger sehen Sie?“
    Ich blinzelte und hustete. „Zwei“, flüsterte ich automatisch.
    „Sehr gut.“ Der Doktor kontrollierte meinen Pulsschlag. „Etwas unregelmäßig, aber kräftig.“
    Ich versuchte mich zu bewegen, riss an den Riemen, die eng um meine Gelenke geschnürt waren.
    Rot streichelte über das Gehäuse der Uhr. „Wir werden es schaffen“, flüsterte er. „Es ist nicht vorbei. Alles wird gut.“ Dann drehte er sich um und sah mich an. Seine Gesichtshaut war grau und trocken, rissig wie Wüstenboden. Seine Augenlider zuckten. „Lösen Sie die Fesseln, Doktor.“
    „Wie bitte? Aber wir müssen …“
    „Doktor!“ Scharf und befehlsgewohnt und plötzlich bekannt, auch wenn die Stimme nicht durch Rauschen verzerrt wurde.
    „Ja“, sagte sie, „ja, Vater“ und öffnete die Verschlüsse der Riemen.
    Ich rieb meine Handgelenke. „Sie?“, sagte ich. „Sie sind ihr Vater? Wie können Sie nur so …“ Mir fehlten die Worte und ein unsichtbarer Riemen schnürte meinen Hals zu.
    „Es ist nur zu ihrem Besten“, sagte er und strich dem Mädchen über die Schulter. „Wir haben es bald geschafft. Es war nicht umsonst.“ Er nickte, als bräuchte er eine Bestätigung seiner Worte. „Nicht umsonst. Ah, wir haben Sie gefunden, Frau Catrin, Sie sind der Schlüssel, Sie werden alles zum Guten wenden.“
    Ich betrachtete den Körper des Kindes, der mehr tot als lebendig in dem Stuhl vegetierte. Wie lange schon? „Wie viele Jahre? Wie viele Jahre quälen Sie dieses Kind?“
    „Sie verstehen nicht. Sie können nicht verstehen.“ Rots Hände zitterten. „Doktor, bitte, erklären Sie unserem Gast die Zusammenhänge. Und dann, geschätzte Frau Catrin, entscheiden Sie.“
    „Was denn? Was soll ich entscheiden?“ Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren, viel zu schrill.
    „Ob Sie bereit sind, zu teilen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich brauche mehr Werkzeug.“
    Er verließ den Raum und ich konnte kurz das Nichts erkennen, das sich quälend leer hinter der Tür auftat. Ich wischte mir über das Gesicht. „Jacques?“, rief ich und bekam ein Krächzen zur Antwort. „Wo bist du?“
    Ich drehte mich um und sah ihn auf den Armlehnen eines Stuhls hocken. Als ich ihm über das Gefieder strich nahm er seine menschliche

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