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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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und seine Stimme klang ungewöhnlich dünn , noch leiser und tonloser als sonst .
    Auch mein Räuspern war nur ein unscheinbares Kratzen. „Deshalb die Brillen“, sagte ich. „Damit man nicht verrückt wird.“
    Rot zuckte mit den Schultern. „Kommen Sie, es ist nicht mehr weit.“
    Ich versuchte ihm zu folgen, aber meine Füße weigerten sich, den nächsten Schritt zu machen. Wo war oben, wo unten? Mein Magen rebellierte und mir wurde schlecht. Ich begann zu hyperventilieren und schlang die Arme um meinen Oberkörper, als könnte ich mich daran festhalten. Woran hätte ich mich auch sonst klammern sollen?
    Rots Gestalt verschwamm zu einem Farbtupfer in der Ferne und wurde kleiner und kleiner. Ich versuchte zu rufen, bekam aber keinen T on heraus. Ich stand wie erstarrt und spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen.
    Dann hörte ich ein spärliches Krächzen. Nur einen Augenblick später schlug mir ein großer Rabe seine Krallen in die Schulter und biss in mein Ohrläppchen.
    „Rokan, bist du das?“
    Ich winkelte meinen Arm an und der Vogel kletterte zitternd darauf. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, und flackerten ängstlich. Er krächzte noch einmal und deutete in die Richtung, in der Rot nur noch als winziger, schwarzer Punkt zu erkennen war.
    „Also gut“, sagte ich, „gehen wir.“
    Nachdem ich einen Schritt getan hatte, bewegten sich meine Füße mechanisch. Links, rechts, nur nicht denken, den Blick starr auf das ein zig erkennbare Etwas gerichtet.
    Als wir den Uhrmacher fast erreicht hatten, trat er durch eine Öffnung, die sich nur unscheinbar vom Nichts abhob und im Begriff war, sich hinter ihm zu verschließen. Ich rannte los, warf mich in den engen Spalt und schlug hart auf marmoriertem Fliesenboden auf. Ich presste meine Stirn an die kühlen Kacheln und lachte. Der Rabe schüttelte sich die Federn aus und begann zu wachsen, wurde zu einem breiigen Körper, der sich zu Jacques Gestalt formte.
    Keuchend lag der Junge auf dem Boden und starrte an mir vorbei.
    „Jacques, geht es dir gut?“ Ich strich ihm die Strähnen aus der Stirn. „Wir sind in Sicherheit, es ist alles in Ordnung.“
    Seine Unterlippe zitterte und er schüttelte leicht den Kopf. Erst jetzt folgte ich seinem Blick und riss mir die Brille vom Kopf. „Oh mein Gott!“, flüsterte ich, bevor ich meinen Mageninhalt auf den Boden spuckte.

Kapitel 27

    S ie war zehn, vielleicht zwölf Jahre alt; ihre Haut so fahl und bleich wie das Meer aus Papier, das an ihren schmalen Körper brandete und nur darauf zu warten schien, sie bei der erstbesten Gelegenheit in die Tiefe zu reißen. Der Scriptograph ratterte, spuckte Blatt um Blatt des Endlospapieres aus, das immer höhere Wellen schlug.
    Ich wischte mir den Mund an meinem Ärmel ab, folgte den Kabeln mit meinen Blicken, unfähig zu sprechen, unfähig die Gefühle an die Oberfläche gelangen zu lassen, die sich hart und schwer in meinem Magen sammelten. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Spielte mein Gehirn mir einen Streich und füllte das Nichts mit dieser unbegreiflichen Szenerie? Konnte ich mir das ausgedacht haben? War meine Phantasie zu so etwas fähig?
    Ich drückte mich an die Wand und klammerte mich an Jacques Hand fest, der schwer atmend auf dem Boden kauerte.
    „Was ist das?“, flüsterte er. „Was ist das nur?“
    „Du kannst es auch sehen?“
    „Ja, ich sehe es und ich wünschte, ich wäre zurück in der grauenvollen, leeren Welt, in der es nichts gab, außer Furcht und meinem Herzschlag.“
    „Sie ist es“, flüsterte ich. „Das Mädchen aus dem Tagebuch. Und der Vater ist ihr eigener Vater. Großer Gott, Jacques, wir müssen ihr helfen.“
    Jetzt tönte ein unmenschliches Kreischen aus der hinteren Zimmerecke und Jacques sprang auf die Füße. Das Gesicht schmerzverzerrt, gab er einen Laut von sich, der wie eine Antwort klang. Ich versuchte ebenfalls aufzustehen, aber meine Beine versagten mir den Dienst und ich begann zu realisieren, was ich da sah.
    Das Mädchen saß starr in einer Art Zahnarztstuhl. Ihre Handgelenke waren an den Armlehnen fixiert, nur die Finger bewegten sich unkontrolliert. Auch ihr Kopf war mit einem Lederriemen an der Kopfstütze befestigt. Kahlgeschoren. Jeder Menschlichkeit beraubt. Ein Speichelfaden hing aus ihrem halbgeöffneten Mund und tropfte auf den schmutzig weißen Kittel, der ihren ausgezehrten Körper wie ein Leichentuch bedeckte. Und die Kabel. Ich biss in meinen Handrücken, bis ich Blut schmeckte, und

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