Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn
hatte fahren lassen. Als sie an ihm vorbeikam, schenkte sie ihm einen kurzen Blick, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Ein blasses, strenges Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Ein kühler Blick, der in ein, zwei Sekunden alles wahrnehmen konnte.
Cotton wollte ihr noch lässig zunicken, aber da sah sie ihn schon nicht mehr an, als würde sie ihn von einer imaginären Liste lauernder Gefahren und Möglichkeiten streichen.
Verdammt. Dieser Blick machte ihn fertig.
Ein wenig frustriert, weder als gefährlich noch interessant eingestuft zu werden, beobachtete Cotton die Frau weiter durch den Innenspiegel und überlegte, was ihn sosehr an ihr beunruhigte. Im ersten Moment hielt er sie für eine Edel-Prostituierte, die von einem Job kam. Aber das war es nicht, was ihn so beunruhigte. Erst als sie am Ende der Mulberry in die Bayard abbog, kam er darauf.
Sie war bewaffnet gewesen. Er hatte die typische kleine Ausbuchtung unter ihrem Jackett bemerkt, die das Holster einer .38er verursachte.
Cotton schaute hinüber zu dem Haus, wo Brandenburg immer noch »nach dem Rechten« sah. Er zögerte. Überlegte. Verwarf den Gedanken, seinem Impuls nachzugeben und der Frau zu folgen - und stieg dann doch aus.
Als er die Bayard Street erreichte, sah er, wie die Frau in einem Haus verschwand. Kurz darauf wurde ein Fenster im zweiten Stock hell.
Cotton blickte auf das Klingelschild, aber es gab keine Namen, nur Apartmentnummern. Er überlegte, was er tun sollte. Natürlich sollte er verdammt noch mal zurück zum Wagen gehen, Brandenburg Beine machen und sich auf den Feierabend freuen. Eine schöne junge Frau mit einer .38er unter der Jacke nachts allein auf der Straße war an sich noch kein Anlass, die Pferde scheu zu machen. Er sollte zum Wagen zurückkehren. Nicht gut, sich unabgemeldet vom Dienstwagen zu entfernen. Gar nicht gut.
Dennoch wurde Cotton das seltsame Gefühl nicht los.
Neben dem Haus befand sich ein kleiner Parkplatz, mit einem Maschendrahtzaun gesichert. Cotton zählte fünf Autos, alle mit Kennzeichen des Staates New York. Seitlich gab es einen Nebeneingang ins Haus. Cotton überprüfte das Tor zu dem Parkplatz und stellte fest, dass es nicht verschlossen war. Als er den Boden hinter dem Tor mit der Taschenlampe ableuchtete, entdeckte er das geknackte Schloss. Konnte Zufall sein, denn mehr als fünf Autos passten ohnehin nicht auf den kleinen Hof, also war keines geklaut worden. Vielleicht hatte einer der Mieter nur seinen Schlüssel vergessen und war ungeduldig geworden. Keine Seltenheit in dieser Stadt.
Inzwischen hatte Cotton einen Entschluss getroffen. Nach dem Rechten zu sehen, war schließlich sein Job. Im schlimmsten Fall machte er sich zum Affen, aber wenigstens würde er die Frau kennenlernen. Vielleicht ergab sich ja was. New York war voller Überraschungen.
Cotton schlüpfte durch das Tor auf den Parkplatz und zwängte sich an den Autos vorbei zum Nebeneingang. Er wunderte sich nicht einmal über das uralte Zylinderschloss, ein Cisa 02500 Standard. Selbst in Manhattan besaßen viele Häuser und Wohnungen immer noch keine Sicherheitsschlösser.
Er brauchte nicht mal eine Minute, dann war er im Haus. Ohne Licht zu machen, schlich er die steile Treppe hinauf. Das Treppenhaus wirkte überraschend modern und schien frisch renoviert zu sein. Auf jedem Stockwerk gab es vier Apartments mit stabilen Türen und modernen Sicherheitsschlössern.
Als Cotton den ersten Stock erreicht hatte, hörte er von oben einen erstickten Laut, dann ein rumpelndes Geräusch. Es war das Geräusch eines menschlichen Körpers, der zu Boden fiel.
Cotton zog seine Waffe und stürmte die Stufen hinauf. Die Tür des Apartments am Ende des zweiten Stocks stand einen Spalt weit offen. Licht sickerte von irgendwo aus der Wohnung in den Flur. Von drinnen kam kein Laut mehr.
So leise wie möglich schob Cotton die Tür auf und bewegte sich mit gezogener Waffe auf das Licht im Wohnzimmer zu. Die Einrichtung der Wohnung war schlicht, aber geschmackvoll. Replikas antiker chinesischer Schränke und Truhen, eine aufgeräumte saubere Küche. Im Flur hingen alte gerahmte Familienfotos ordentlich in einer Reihe. Das einzige Licht kam von einer kleinen chinesischen Stehlampe im Wohnzimmer, Cotton konnte sie genau sehen.
»Madam?«, rief er. »Madam, hören Sie mich? Ich bin Officer Cotton vom NYPD. Ich komme jetzt zu Ihnen rein, okay?«
Vielleicht hätte er die Klappe halten sollen, trotz der Vorschriften, aber die Frau war ja
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