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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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schwingen.
    Ich erwarb mir dort einen gewissen Ruf und einen Frieden, den keiner je wieder in Frage stellte. Eine kleine Handschrift und eine starke Faust haben sich noch nie ausgeschlossen.

 
     
     
     
    Ich muss gestehen: Dieser Bericht meiner Jugend erfüllt mich mit einem ungekannten Glück. Man kann nicht behaupten, dass mir im Verlaufe meines Lebens viel Beachtung geschenkt wurde. Cristóbal interessierte sich nur für sein Unternehmen, und alle interessierten sich nur für Cristóbal.
    Und jetzt kommen plötzlich zwei achtbare Männer jeden Tag zu mir zu Besuch und begeistern sich für meine Worte. Las Casas ist ganz Auge und Ohr für mich. Und Bruder Hieronymus schreibt alles auf, was ich erzähle, als ob sein ewiges Leben von der Zuverlässigkeit seiner Mitschrift abhinge.
    So viele Greise enden in der Gleichgültigkeit! Wie sollte ich da nicht die unerhoffte Neugier genießen, die ich hervorrufe?
    Mir scheint, mein Verstand regt sich wieder.
    Ich komme auf Gedanken, die mir sonst nie eingefallen wären. Zum Beispiel dieser: Es gibt zwei Arten von Handel. Genua und Venedig transportieren zum besten Preis und mit der größten Geschwindigkeit Waren oder Materialien, die schon bekannt sind. Im damaligen Lissabon hingegen liefen die Schiffe blindlings aus, dem noch Unbekannten entgegen, und brachten seltene Güter mit.
    Lieber Las Casas, lieber Hieronymus, bevor Ihr zu hart über mich urteilt, fragt Euer Oberhaupt nach seiner Lehre. Warum sollte Gott die erste Art des Handels, den Handel mit dem Bekannten, mit größerem Wohlwollen betrachten als den mit dem Unbekannten? Mir scheint vielmehr, doch mein theologischesWissen ist sehr gering, dass Letzterer dem Ewigen und dem Geheimnis Seiner Schöpfung, gelobt sei sie, zu größerem Ruhme gereicht!

 
     
     
     
    An einem Abend im Januar, ich erinnere mich noch, fröstelte Lissabon unter dem Ansturm eines schrecklichen Nordwinds. Wir waren dick eingemummt bei der Arbeit. Um meine Finger aufzuwärmen, meine wohlbekannten Finger, die für gewöhnlich doch so geschickt im Zeichnen der winzigen, fast unsichtbaren Buchstaben waren, hauchte ich sie ständig an. Meister Andrea klopfte mir auf die Schulter:
    «Lass es sein, heute bringst nicht einmal du etwas zustande. Nutzen wir die Zeit und unterhalten uns. Was weißt du eigentlich über unseren Planeten?»
    Vollkommen sicher erklärte ich ihm, er sei flach, bestehe aus drei Kontinenten und einem Ozean in der Form eines Ts.
    Verdutzt hörte er mich zu Ende an. Meine Kameraden um uns herum begannen zu glucksen.
    «Wer hat dir das beigebracht?»
    «Meine Lehrer.»
    «Und du hast nie versucht, mehr zu erfahren?»
    «Das brauche ich nicht: Ich zeichne nur die Einzelheiten, die Küstenabschnitte. Und außerdem sind die drei Kontinente und der T-Ozean in der Heiligen Schrift verbürgt. Glaubt Ihr denn nicht daran? Seid Ihr Heide?»
    In der Werkstatt regte sich immer größere Heiterkeit. Ich begriff nicht, was der Grund für diese übermäßige Ausgelassenheit war, vor allem nicht bei der Kälte, die herrschte. Meister Andrea jagte alle davon. Und ich machte in der verlassenen WerkstattBekanntschaft mit einem neuen Land, mit dem Land des Verstandes.
    «Ich will dir eine Geschichte erzählen, Bartolomeo. Es war einmal, zweihundertfünfzig Jahre vor Christi Geburt, ein Mann namens Eratosthenes. Er wohnte in der ägyptischen Stadt Alexandria. Diese Stadt war ein Anziehungspunkt für alle Freunde der Wissenschaften, denn sie besaß die größte Bibliothek. Deren Leiter war Eratosthenes. Er war Mathematiker und Geograph, das heißt ein Mathematiker, der gerne durch die Straßen und Felder spazierte. Für ihn waren Algebra und Geometrie keine abstrakten Wissensgebiete, nicht nur Quellen geistigen Vergnügens: Vielmehr sollten beide Disziplinen Lösungen für Fragen des täglichen Lebens bieten.
    Eines Tages hörte er, wie ein Reisender erzählte, dass im Süden Ägyptens, in der Stadt Syene, am 21. Juni zur Mittagsstunde die Sonnenstrahlen genau senkrecht in die Brunnen fielen.
    Eratosthenes überlegte: Hier in Alexandria hat jedes Ding einen Schatten, selbst zur Mittagsstunde. Wenn ich genau zu der Stunde, wo Syene ohne Schatten ist, den Winkel dieses Schattens errechnen könnte, wüsste ich, wie groß die Erde ist.
    Er wartete auf den 21. Juni. Mit drei jungen Bibliotheksgehilfen, umringt von einer Menschenmenge und ganz bestimmt einigen neugierig gewordenen Hunden, zog Eratosthenes Linien in den Sand. Dann übertrug er

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