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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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sind?»
    Unser Schweigen war ihm Antwort genug.
    «Wahr ist es, dass ihr kaum Griechisch könnt! Antipoden sind Menschen, die auf der anderen Seite der Erde herumspazieren, also mit den Füßen
(podos)
gegen
(anti)
uns stehen.»
    Dieses Mal muss die Stadt von unserem Gelächter gebebt haben.
    «Was sind diese Heiden dumm! Haben sie überhaupt ein Gehirn?»
    Dabei wachte unser Faulpelz auf, der kleine, verschlafene Giovanni. Er litt an irgendeiner Krankheit des Bauchs oder der Augen und verbrachte seine Tage zusammengesunken auf seiner Schulbank. Jetzt richtete er sich auf und rief:
    «Aber dann ist die Erde ja flach!»
    Die ganze Klasse antwortete ihm wie aus einem Mund:
    «Na klar!»
     

    Noch eine Erinnerung. Eine weitere Lektion in Unwissenheit durch unseren alten Lehrer:
    «Wenn er mit einer schwierigen Frage konfrontiert war, erhob sich der heilige Augustinus für gewöhnlich und ging spazieren.
    An jenem Tag grübelte er ohne Ergebnis über das Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit. Wie sollte man es verstehen, dass dieser eindeutig einzige Gott dennoch geteilt ist in einen Vater, einen Sohn und einen Heiligen Geist?
    Er beschloss, am Strand spazieren zu gehen. Das gewaltige, wogende Meer brachte ihn oft auf gute Ideen.
    Unterwegs am Strand begegnete er einem Kind, das einer seltsamen Beschäftigung nachging: Es hatte ein Loch in den Sand gegraben und lief, eine Muschel in der Hand, zwischen dem Ufer und dem Loch hin und her.
    , fragte der heilige Augustinus.
    
    
    Das Kind sah den heiligen Augustinus nur an und lachte. Dann verschwand es.
    Da dachte der heilige Augustinus noch einmal über die Dreifaltigkeit nach und verstand die Botschaft: So wenig man das Meer mit einer Muschel ausschöpfen kann, so wenig kann man die Geheimnisse des Glaubens mit dem Verstand begreifen. Zu den grundlegenden Wahrheiten gelangen wir nicht durch die Vernunft, sondern durch die Liebe und den Glauben.
    Möge dies das Schlimmste sein, was euch widerfährt.»
    Der alte Priester war am Ende seiner Stunde.
    Er fügte nur noch einen Satz, eine letzte Empfehlung hinzu:
    «Haltet euch immer an diese heilige Unwissenheit, Kinder, hört ihr!»
    Wie anders als um meine Seele zitternd hätte ich unter solchen Umständen in diesen Tempel des Wissens eintreten können, den die Werkstatt eines Kartographen und Kosmographen darstellt?
     

    Ich habe oft an jene heilige Unwissenheit gedacht, die auch die Muslime in ihren Schulen lehren.
    Bestimmt ist sie der Grund, weshalb sich unter den wenigen Büchern, die ich auf die Insel Hispaniola mitgenommen habe, die
Bekenntnisse
des heiligen Augustinus befinden.
    Gestern habe ich Kapitel XXXV aus dem zehnten Buch wieder gelesen, das von der Neugier als der zweiten Versuchung handelt:
    (Es gibt) in der Seele noch eine andere eitle und neugierige Sucht. Sie bezieht sich auf dieselben Sinne, will aber nicht fleischlich genießen, sondern will mit dem Fleisch Erfahrungen machen und versteckt sich unter dem Namen «Erkenntnis» und «Wissenschaft». Sie heißt in der göttlichen Offenbarung «Augenlust»,weil sie auf dem Erkenntnisdrang beruht und weil die Augen beim Erkennen von allen Sinnen die Hauptrolle spielen. (…)
    (Diese kranke Gier) bewegt die Menschen, das Verborgene der außermenschlichen Natur zu erforschen, deren Kenntnis vollkommen unnütz ist; aber die Menschen wollen nichts anderes als bloßes Wissen.

 
     
     
     
    Wenn es eine Sünde ist, mehr als alles andere das Unbekannte zu lieben, dann verurteilen Sie mich, aber verurteilen Sie nicht mich allein, schicken Sie ganz Lissabon in die Hölle.
    Ich bin in einer Hafenstadt geboren. Ich weiß, wie die Neugier abstumpft, wenn die Schiffe immer mit derselben Fracht zurückkehren. In Genua machte man kein Fest daraus, wenn Schiffe einliefen, denn niemand rechnete mehr mit etwas Neuem.
    Ich war erst eine Woche in Portugal und blickte gerade von meinen Miniaturbuchstaben auf, als ich meine Kameraden am hellen Vormittag aus der Werkstatt stürmen sah. Ich eilte ihnen hinterher. Bestimmt war ein Feuer ausgebrochen, und trotz meiner beginnenden Leidenschaft für Landkarten wollte ich nicht unbedingt mit ihnen zusammen geröstet werden.
    Auf der Straße war alles auf den Beinen. Ich reihte mich in den Menschenstrom ein, ohne zu verstehen, was vor sich ging, denn niemand geruhte, auf meine Fragen zu antworten.
    Die Häuser leerten sich. Selbst Menschen,

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