Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Wie könnte man auch nur die kleinste Lüge erschaffen, wenn nicht im Rückgriff auf die Wahrheit und fest auf sie gestützt?
Die Lüge erfordert zudem größte Beherrschung und Umsicht. Wenn man ihr die Zügel schießen lässt, ihr erlaubt, nach Belieben herumzuspazieren, kann niemand dafür garantieren, dass sie nicht, wenn der Zufall mitspielt, auf die Wahrheit stößt.
Die wahrhafte Lüge – ich meine die einzige, die etwas nützt – ist das Gegenteil eines Phantasiegebildes. Die kleinste Nachlässigkeit macht sie zunichte.
Ihr hättet hören und sehen sollen, wie wir gelogen haben. Die Hurrastimmung, die kindliche Fröhlichkeit, die dann unsereWerkstatt beseelte, hätte Euch zittern lassen, mein lieber Las Casas. Welch böser Geist beseelte uns, dass wir es wagten, die Schöpfung zu ändern, um uns daran zu ergötzen, falsche Karten zu erfinden?
Auf unserem längsten Gerüstbock lag die echte Karte, fast möchte ich sagen ausgestreckt wie ein Leichnam im Leichenhaus. Wir behielten sie fest im Blick, und einer nach dem anderen machte Vorschläge für Veränderungen. Anfangs schüchtern. Doch bald wurden wir kühn, wir verschoben Sandbänke, bewegten Riffe, hobelten an Kaps. Derjenige, den wir «den Schwindler» nannten, saß allein am Tischende und notierte ungerührt alles in ein kleines Heft. Meister Andrea feuerte uns an.
«Was ist heute mit euch los? Habt ihr Angst vor der Wirklichkeit? Auf, auf, vergesst nicht, wir müssen den Feind in die Irre führen! Ein guter Schiffbruch verhindert eine ganze Seeschlacht!»
Ich erinnere mich gut.
Der Jüngste, also ich, hatte die Aufgabe, die Sanduhr zu beobachten. Wenn das letzte Sandkorn nach unten gefallen war, hob ich die Hände. Das Fest war zu Ende. Jeder wandte sich wieder seiner Arbeit an der Wahrheit zu, der Anfertigung «echter» Karten.
Den Schwindler sah man daraufhin tagelang nicht mehr. Er hatte verlangt, und man hatte es ihm gewährt, in einem abgeschiedenen Zimmer zu arbeiten. «Der Schwindel stammt von der Wahrheit ab, aber ein Sohn muss sich eines Tages von der Mutter lösen, um sich ganz zu entfalten» – so redete oder vielmehr brummelte er, immer ein wenig rätselhaft.
Vor meiner Einstellung hatte es wohl eine Zeit gegeben, in der man ihn «den Fälscher» genannt hatte. Bis jemand bemerkt hatte, dass der Fälscher der sorgfältigste von allen Kopisten ist: Er bemühte sich darum, so nahe wie möglich an das Original heranzukommen. Wir zum Beispiel, die wir die echten Karten malten, waren echte Fälscher.
So wurde dann ein neuer Titel für ihn gefunden, eben «der Schwindler». Keine Bezeichnung hätte besser zu ihm gepasst.
Zaghaft fragte ich ihn einmal, ob ihn dieser Name verletze? Er zuckte mit den Schultern.
«Schaut euch an, was seid ihr schon? Sklaven, Schafe! Ihr folgt den Linien. Ich erfinde. Die Lüge ist eine Form des Rittertums.»
Um ein guter Lügner zu sein, braucht man eine ganz bestimmte geistige Veranlagung: Imagination und Disziplin gehen nicht immer zusammen. Daher sind Lügner unter den Kartographen selten. Die Werkstätten reißen sich um sie, und sie können Löhne verlangen, die niemand erreicht, der für die Wahrheit arbeitet. Genauso heißt es von guten Giftmischern, sie seien reicher als die Köche.
War das Lügenwerk fertiggestellt, musste es noch geschluckt werden. Unnötig zu erwähnen, dass der Schwindler nicht willens war, sich um diese letzte Etappe zu kümmern. Unter keinem Vorwand hätte er das ruhmreiche Land der Lüge verlassen. Im Übrigen widmete er sich bereits seinem nächsten Werk, einem neuen Betrug.
Mit der Zeit hatte Andrea eine Strategie mit zwei Varianten entwickelt, die sich beide bewährten. Erst im letzten Moment entschied er sich für eine der beiden, je nachdem, was in Lissabon gerade in der Luft lag, welche Anzeichen es gab, die nur Andrea allein erkannte. Welche Spielart er auch nutzte, alles begann immer damit, dass ein Gerücht in die Welt gesetzt wurde.
Das erste Gerücht war das von der
«vollkommenen alten Karte».
Bei aller gefürchteten Durchschlagskraft war der Schwachpunkt bei diesem Gerücht, dass es der Komplizenschaft eines Kapitäns bedurfte. Zurück von einer Seereise, feierte er nach Erledigung der Formalitäten seine Rückkehr, wie unter Schiffsführern üblich, in etlichen Kneipen. Und waren dort ein paar Runden getrunken, rühmte der Kapitän die Arbeit seines Kartographen: «Mit der Karte, die er mir geliefert hat, war ich auf hoher See sicherer
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