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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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zucken, denn sie liebten den Geschmack ihres Fleisches. Und um sich Licht zu machen, verbrannten sie das Öl, das man aus ihnen gewinnen konnte.
    Welcher Arzt hat als Erster erklärt, und auf welcher Grundlage, dass Schildkröten ein Heilmittel gegen Lepra und viele andere schlimme Krankheiten in sich tragen? Er ließ sich wohl von der Langlebigkeit dieser Tiere leiten, von denen manche über zweihundert Jahre alt werden.
    Ich war bei mehreren Behandlungen anwesend. Das Rezept ist einfach, wenn auch abstoßend.
    Mit einem Messer löst man das Tier aus seinem Panzer. Es blutet so stark, dass es bald stirbt. Das Blut fängt man auf und gießtes in den Panzer, der so zur Wanne wird. Dort hinein taucht man den Kranken. Das Blut trocknet auf seiner Haut, und anscheinend heilt ihn diese rote Rüstung. Ebenso wie das Fleisch des Tieres, sofern er es täglich isst.
    Zwei Jahre muss man diese Behandlung anwenden, dann, so heißt es, ist die Lepra besiegt.
    Ich weiß nicht, warum mir dieses plumpe Volk so ans Herz gewachsen ist. Vielleicht war es die Unentschiedenheit zwischen Tier und Mineral? Der Kopf von einem Vogel, der Körper ein großer Stein. Ebenso sind hier, auf meiner geliebten Insel Hispaniola, die Pflanzen so gewaltig, dass sie wie Tiere aussehen. Diese Vermischungen von Tier- und Pflanzenreich erfüllen mich mit Hoffnung auf die Kraft des Lebens selbst in dem Moment, da ich es verlassen muss. Wenn das Leben eins ist und sich mal in dieser, mal in jener Form manifestiert, dann ist der Tod vielleicht nur ein Augenblick, eine Phase in der ständigen und allgemeinen Metamorphose.
    Wie dem auch sei, um das Schicksal dieser armen Kreaturen machte ich mir permanent Sorgen. Von einem äußerst geschäftstüchtigen bretonischen Händler namens Kermarec, der oft unseren Hafen anlief, um sich hier für den Weißwein aus Burgund starkzumachen, erfuhr ich, dass der französische König, Ludwig XI., sich ebenfalls für diese unglücklichen Tiere interessierte. Da es seinen Apothekern nicht gelang, ihn von verschiedenen beschwerlichen Krankheiten zu befreien, hatte er angeordnet, man solle jene wundertätigen Arzneien dort holen, wo sie zu finden seien. Eine Expedition zu den Kapverdischen Inseln wurde aufgestellt. Das Kommando war dem schrecklichen Korsaren George Le Grec übertragen worden.
    Ich war noch immer betrübt über diese Nachricht, als Kermarec wiederkehrte und mir mit breitem Lächeln das Urteil des Gottesgerichts verkündete: König Ludwig hatte, genau einen Tag bevor George der Korsar in See stechen sollte, das Zeitliche gesegnet. Wir feierten die neue Galgenfrist für die Schildkröten, wie es sich gehört: mit Burgunder.
     

    Die fanatische Begeisterung für die Naturwissenschaften hatte einen Preis: den Gestank. Wie später in Sevilla schaffte man es in Lissabon nicht, bei der Festlegung der Namen mit den Entdeckungen Schritt zu halten.
    Ich kam just zu dem Zeitpunkt nach Lissabon, als der Rückstand unerträglich wurde. Eines Morgens, als der Wind drehte und zugleich eine schwüle, drückende Hitze hereinbrach, kräuselte der König beim Aufwachen die Nase. Zumindest beginnt für die ganze Stadt die Geschichte mit dieser Grimasse.
    «Was ist das für ein Gestank?», rief er.
    «Majestät», erwiderte der Kammerherr, «ich habe Nachforschungen anstellen lassen: Er kommt vom Speicher.»
    «Welchem Speicher?»
    «Dem Speicher für die Schiffsfracht, die darauf wartet, Namen zu bekommen.»
    «Führe er mich dorthin!»
    Je näher man dem Speicher kam, umso stärker wurde der Gestank. Die Gesichter der Höflinge verschwanden hinter Taschentüchern. Nur der König schritt munter mit unbedeckter Nase voran.
    «Ich will Bescheid wissen, ich will Bescheid wissen. In diesem Königreich verbirgt man zu viel vor mir!»
    Als man die Türen öffnete, verschlug es ihm dennoch fast den Atem. Die Ausdünstungen der Fäulnis schnürten einem die Kehle zu.
    Auf Gittern gelagert oder auf dem nackten Fußboden aufgeschichtet, sah man auf der einen Seite Pflanzen aller Art in allen Größen und Farben, vom Pfefferkorn bis zu ganzen Sträuchern, und auf der anderen Seite Tiere in einer Vielfalt wie auf den buntesten Jagdgemälden. Einige waren ausgenommen und anschließend ungeschickt zusammengenäht worden: Wahrscheinlich hatte man ihnen auf dem Schiff die Innereien entfernt, damit man sie besser aufbewahren konnte. Doch die anderen waren lebend angekommen, und ihre Kadaver waren es, die in Lissabon jetzt die Luft derart

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