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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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unterwegsals auf dem Festland. Bis auf zwei oder drei Einzelheiten, die ich im Übrigen vermerkt habe, kann man jetzt davon ausgehen, dass die beste Route eingezeichnet ist.»
    Ihr werdet einwenden, ein Kapitän würde, selbst wenn er ein Komplize wäre, nie so offen reden, vor allem nicht, wenn Schnaps im Spiel ist. Und ich gebe Euch recht. Ich wollte auch nur den Ursprung des ersten Gerüchts so deutlich wie möglich darstellen.
    Zur Natur von Gerüchten gehört, dass sie sich ausbreiten wie Brotteig durch Hefe. Ein paar Stunden nach diesen ebenso lobrednerischen wie beschwipsten Äußerungen des Kapitäns wollte alle Welt mit allen Mitteln in den Besitz dieser Wunderkarte gelangen, die, versteht sich, ein Werk unseres Schwindlers war.
    Ein gutes Gerücht geht aber nur dann seinen Gang, wenn man den Gegenstand des Gerüchts sorgfältig präpariert. Die Karte, um die es ging, musste die Narben einer langen Seereise tragen: Risse, Fettflecken, Salzflecken, von der Sonne ausgebleichte Stellen usw. Die Zuarbeiter des Schwindlers hatten sich auf diese Travestie spezialisiert.
    Das zweite Gerücht war das von der «höchsten Erkenntnis».
    Dieses Gerücht musste unser Kind sein, das der Angestellten in Andreas Werkstatt. Durch unser hartnäckiges Schweigen, eine größere Verschwiegenheit als sonst, durch unsere Weigerung, etwas zu erzählen, obwohl niemand etwas von uns wissen wollte («Ich habe versprochen, nichts zu sagen»), durch unser Leugnen («Aber nein, nichts Besonderes, ich schwöre, wir arbeiten nicht mehr und nicht weniger als sonst und mit nicht mehr und nicht weniger Sorgfalt») sollte sich folgender Gedanke verbreiten: der Karte der Karten,
die alles bis zum heutigen Tag verfügbare Wissen vereinigen soll, dem Schlüssel zu allen Türen von sämtlichen neuen Welten.>
    Jedes der beiden Gerüchte mündete dann entweder im Verlust oder im Diebstahl.
    Damit das Schicksal sich erfüllt, kommt es täglich vor, dass einem Seemann oder einem Lehrjungen nach wildem Zechgelage ein wertvolles Dokument aus der Tasche fällt oder dass er es auf dem Tisch liegen lässt. Doch wird sich nicht derjenige, der es einsammelt, oder vielmehr der andere, der es demjenigen abkauft, der es eingesammelt hat, wird er sich nicht fragen, wie es möglich war, so außerordentlich leicht an diesen Schatz zu gelangen? Zum Zweifel an der Herkunft des Dokuments gesellt sich dann zwangsläufig der Zweifel an seinem Wahrheitsgehalt. Man tut also besser daran, einem Diebstahl Vorschub zu leisten, das heißt, die falsche Karte auf solche Weise zu beschützen, dass niemand dem Verlangen widerstehen kann, sie in seinen Besitz zu bringen. Und dass jemand, der es wirklich auf diesen Schatz abgesehen hat, Lücken in der Kette der Bewachung findet.
    Nie drehten mehr Soldaten ihre Runden vor unserer Werkstatt als zu den Zeiten, wenn wir gerade eine falsche Karte fertiggestellt hatten. Und niemals sonst wurden so viele dieser Soldaten von einem so jähen Schlafbedürfnis übermannt.
    Einige unter uns vertrugen unser unablässiges Schlingern zwischen Lüge und Wahrheit schlecht. Sie bekamen eine Art Seekrankheit davon.
    Eines Morgens suchten sie, noch blasser als gewöhnlich und mit noch schwankenderem Schritt als sonst, Andrea auf:
    «Meister, ich verlasse Euch.»
    «Das ist dein gutes Recht. Aber mein Recht ist es, dich zu töten, wenn du ein einziges unserer Geheimnisse preisgibst. Zumindest würde ich dir die Zunge herausschneiden.»
    «Ja, Meister.»
    Ich habe einige dieser Abtrünnigen (wie soll man sie sonst bezeichnen?) wiedergetroffen. Sie alle hatten sich für die Feldarbeit entschieden, für ihre Regelmäßigkeit, ihren unbestreitbaren Wirklichkeitsbezug, für die Unterwerfung unter die Jahreszeiten, die seit Millionen Jahren unabänderlich wiederkehren und gegen die der Mensch mit seiner Phantasie nichts ausrichten kann.
    Ich für meinen Teil hätte keine bessere Lehrstelle finden können. Denn niemand hat so beständig zwischen Lüge und Wahrheit laviert wie Cristóbal, mit einer deutlichen Bevorzugung der Ersteren.

 
     
     
     
    Ich habe alle Zahlen, die Cristóbal betreffen, im Kopf.
    Zwischen 1469, dem Jahr meiner Ankunft in Portugal, und 1476, dem Sommer des Schiffbruchs, in all diesen Jahren, in denen er immerfort zur See fuhr, hat mein Bruder nur ein einziges Mal in Lissabon Halt gemacht. Oder zumindest hat er es nur ein einziges Mal für nötig erachtet, mir in Erinnerung zu

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