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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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haben musste, so sehr brannten sie.
    Sollte es möglich sein, dass die Folter an dieser Stelle zu Ende war? Mit einer kleinen Bewegung des Zeigefingers vergewisserte ich mich: Auf die Seite, die ich vor mir hatte, folgte keine weitere. Dieser Absatz war tatsächlich der letzte. Er hatte also ein wenig Feierlichkeit verdient. Ich hob die Stimme:
    Denn, wie wir im ersten Kapitel dieses Buches gesagt haben, seit der Erschaffung unseres Urvaters Adam gab es keinen Christen, keinen Heiden, weder einen Tataren noch einen Inder, keinen einzigen Menschen irgendwelcher Herkunft, der jemals so viele Gegenden auf der Welt besuchte und erforschte wie Herr Marco Polo, Sohn des Herrn Niccolo Polo, edler und großer Bürger aus der Stadt Venedig…
    Ich schloss das Buch und sah auf:
    «Ende!»
    «Was ist zu Ende?», fragte Cristóbal.
    «Das Buch
Die Wunder der Welt.
Herr Polo ist nach Hause zurückgekehrt.»
    «Sein Stolz ist lächerlich. Er ist nur vorhandenen Wegen gefolgt. Ich werde einen neuen Weg erfinden.»
     

    Für die Gebrüder Colombo hatte noch immer keine Glocke zur Pause geläutet. Welchen Pakt haben die Seeleute mit dem Teufel geschlossen, dass sie der Müdigkeit so widerstehen können, welchen Teil ihrer Seele haben sie verkauft für die Fähigkeit, wach zu bleiben, während die Landratten bereits seit Tagen taumeln? Drei Nächte, drei ganze Nächte lang musste ich mir die Mühe machen und unter Cristóbals erbarmungslosen Blicken das gesamte dicke Buch noch einmal durchgehen, um zu überprüfen, ob ich auch keinen Tag ausgelassen hatte. Mein Bruder war regelrecht versessen auf die genaue Anzahl der Tagesreisen des Venezianers, es war eine geradezu manische Besessenheit. Ich hatte noch nicht begriffen, worum es bei dieser riesigen Rechnung ging.
    Wie dem auch sei, das Ergebnis entzückte ihn: 2015! 2015 Tagesreisen von Venedig bis in den Osten von China. Cristóbal war halb von seinem Schemel aufgestanden, als er die Zahl wiederholte: 2015! Er klatschte in die Hände. Und mit einem Mal übermannte ihn mitten in seiner Freude der Schlaf. Unvermittelt fiel seine Nase auf den Tisch, fast als wollte er ihn küssen, und so lag er da, vornübergebeugt, und schlief.
    Ich wollte verstehen. Ich rüttelte ihn:
    «Und jetzt? Was kommt jetzt? Was bedeutet diese hohe Zahl?»
    «Jetzt?»
    Seine Augen blickten mich fassungslos an. Sie schienen mich nicht zu erkennen. Vielleicht wunderten sie sich, dass ein Mensch so dumm sein konnte?
    «Jetzt? Je größer Asien ist, umso kürzer ist die Seestrecke zwischen Europa und Asien.»
    Diesmal klappten seine Augen wirklich zu. Mir erging es kaum besser, wenngleich mich eine spöttische Stimme tief in mir von fern her darauf hinwies, dass eine Tagesreise keine Maßeinheit seiund es nie sein würde. Die leise spöttische Stimme verstummte schnell, als sie begriff, dass sie nicht die geringste Chance hatte, Gehör zu finden. Und ich schlief ebenfalls ein. Erst drei Tage später öffneten die Gebrüder Colombo ihre Augen wieder, als ein Lehrjunge der Werkstatt an die Tür unseres Anbaus trommelte. Andrea fürchtete, wir seien ermordet worden.
    Die spöttische Stimme meldete sich erst später wieder, in einem entscheidenden Moment unseres Unternehmens. Sie entsprang in diesem Augenblick nicht meinem von Müdigkeit umnebelten Kopf, sondern dem Scharfsinn José Vizinhos, eines Mitglieds der Mathematiker-Kommission.
    Und Cristóbal tat sich sehr schwer mit einer Erwiderung.
    «Wollt Ihr damit sagen, Ihr messt das Meer nach Tagesreisen auf dem Festland? Wisst Ihr um die Schwierigkeiten, denen der große Gelehrte Eratosthenes begegnete, als er die Entfernung zwischen Alexandria und Syene nach Kamelschritten abschätzen wollte?»

 
     
     
     
    «Du kümmerst dich um die Inseln!»
    Kaum hatten wir unsere Vermessung Asiens abgeschlossen, begann Cristóbal, seine Reise zu planen, die er von nun an «das Indien-Unternehmen» nannte. Schon verteilte er die Aufgaben in seiner Zwei-Mann-Armee (bestehend aus ihm und mir).
    Schon teilte er die Elemente auf.
    Sich selbst wies er das Meer und die Flüsse zu; die Windverhältnisse; den Himmel, den Lauf der Sterne, die den Weg wiesen; sich selbst die Navigation, die Auswahl der Schiffe, die Anwerbung der Mannschaften.
    Mir die Karten, die Kontakte zur Obrigkeit und vor allem die Inseln.
     
    An der Frage der Inseln schieden sich unsere Geister schon seit unserer Kindheit in Genua.
    Kaum hatten wir gehen gelernt, schlüpften wir aus dem Haus und liefen über

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