Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
Vom Netzwerk:
Bruder unmerklichen Bewegungen kannte ich nur zu gut: Sie kündigten seine bevorstehende Abreise an. In Gedanken segelte er bereits, und sein Körper glich das Schwanken und Stampfen der Wellen aus, die ihn erwarteten.
    Wenig später, als er seine Abfahrt nach Thule ankündigte, müssen noch die Seevögel an der Flussmündung Andreas Zorn gehörthaben. Seine Flüche vermischten Lobeshymnen mit Beschimpfungen: Du weißt genau, dass du der Beste bist, unersetzlich, du willst mehr Geld, stimmt’s, du Gauner, du willst meinen Laden kaputt machen? Zur See, immer zur See! Was hat die Seefahrt denn zu bieten, was Lissabon nicht hat?
    Er klang wie eine Frau, die sich in wüsten Schmähungen ihres Kapitänsgatten erging. Cristóbal ließ den Sturm vorbeiziehen, dann versprach er zurückzukehren.
    «Wenn du zurückkommst, warum gehst du dann überhaupt fort?»
    «Bestimmte Schiffsrouten fehlen mir noch.»
    Ich begleitete ihn zum Hafen. An der schweren wollenen Kleidung, die man auf der Brücke geladen hatte, erkannte ich, dass sich das Schiff nach Verlassen der Flussmündung sofort nach Norden wenden würde.
    Ich wiederholte Andreas Frage:
    «Was bringt es dir, ins Eis zu fahren?»
    «Das Festland ist dort nicht so groß.»
    Er blickte mir tief in die Augen, als wolle er sichergehen, dass seine Worte bis zu meinem Verstand vordrangen.
    «Ich habe gehört, dass manche Leute dort behaupten, im Westen, ganz nahe, gäbe es Land.»
    Er sprang als Letzter an Bord. Man hatte die Leinen losgemacht. Kein Windhauch rührte sich. Der Ebbstrom hatte die Führung übernommen. Der Tejo trug das Schiff bis zum letzten Licht der Stadt, dann schluckte es die Dunkelheit.

 
     
     
     
    Kaiser, Könige und Fürsten, Herzöge und Markgrafen…
    Die Wunder der Welt.
Das Buch liegt hier, auf dem Tisch in meinem Zimmer im Alcazar vor dem Betstuhl. Als man mich gefragt hat, was ich ins Exil auf Hispaniola mitnehmen wolle, habe ich als Erstes diesen Titel genannt:
Die Wunder der Welt.
    Jetzt fällt mir auf, dass ich das Buch immer bei mir hatte. Es war zweifellos der treuste Gefährte in meinem ganzen Leben. Deshalb ist sein Leder speckig und der Korpus zerschlissen.
    Kaiser, Könige und Fürsten, Herzöge und Markgrafen, Grafen, Ritter und Bürger und Ihr alle, die Ihr die verschiedenen Rassen und die Mannigfaltigkeit der Länder dieser Welt kennenlernen wollt und von ihren Sitten und Gebräuchen erfahren…
    Kein anderes Buch ist für seine Leser von Anfang an so bewegend. Sobald meine Augen die ersten Zeilen wiederfinden, sobald meine Lippen die Worte formen, entwickelt es auch nach so langer Zeit noch denselben Sog, und ich werde von ihm mit starker Kraft fortgetragen zum Hof des Großkhans und zu jenem Tag in Lissabon, als Cristóbal am Morgen nach seiner Rückkehr aus Thule wieder erschien. Über seine Reise nach Norden wollte er nichts erzählen, dafür schwang er ein dickes Buch:
    «An die Arbeit, Bartolomeo! Ich brauche dich zum Rechnen.»
    «Zum Rechnen?»
    «Du wirst schon sehen. Lies!»
    Merkwürdiges und Wunderbares findet Ihr darin, und Ihr werdet erfahren, wie sich Groß-Armenien und Klein-Armenien, Persien, die Türkei, die Tatarei, Indien und viele andere Provinzen in Teilen Europas und in Mittelasien voneinander unterscheiden, wenn man dem Gregale, dem Levante und dem Tramontana entgegengeht.
    Ich erinnere mich an den verrückten Monat, der darauf folgte, ein Monat ohne Rast und Ruh, ohne Schlaf. Ich erinnere mich an die unvernünftige Art und Weise, wie wir
Die Wunder der Welt
mehr durchhechelten als lasen.
    Im Gebiet von Toris gibt es ein sehr frommes Kloster, das dem heiligen Balsamo geweiht ist.
    «Schneller, das muss schneller gehen», wiederholte Cristóbal.
    Aus der persischen Stadt Sava stammen die drei Weisen, die Jesus Christus angebetet haben.
    «Wie viele Tagesreisen?»
    Das war, Seite für Seite, Cristóbals einzige Frage. Er interessierte sich nicht im Mindesten für die Wunder der Landschaften, die Leute und die Sitten, die der Venezianer Marco Polo beschreibt. Ich fügte mich dem Willen des Älteren, wie ich es seit meiner Kindheit tat, und bemühte mich, mit einförmiger und stets hastiger Stimme zu lesen. Nur wenn mein Auge an einem Hinweis auf die Strecken hängen blieb, die der Reisende zurückgelegt hatte, sprach ich lauter und verlangsamte die Lektüre.
    Der Reisende, der die Stadt verlässt, von der ich soeben erzählt habe, reitet
zwölf Tage
lang zwischen Levante und Gregale…
    Mehr habe ich nicht zu

Weitere Kostenlose Bücher