Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
füllen?»
«Ich will die Wind- und Strömungsrichtungen einzeichnen, sie sind die Seestraßen. Ich will die Wind- und Strömungsstärken vermerken, von denen die Geschwindigkeit eines Schiffes abhängt, denn sie sorgen für das Vorwärtskommen auf dem Meer. Ich werde das Meer in den Farben des Wassers malen, denn an ihnen sieht man, wie tief es ist. Ich werde die Formen der Wolken abbilden, die den Sturm ankündigen.»
«Und woher willst du das alles wissen?»
«Ich werde alle Meere befahren. An Land verliere ich nur Zeit.»
Cristóbal hat Wort gehalten und sein Leben auf allen denkbaren Schiffen zugebracht, er segelte bei jedem Wetter mit jeder Art von Fracht zu allen möglichen Zielen, ob nah oder fern. Daher hatte mein Bruder das ganze Meer im Kopf. Ein Wissen, das er sowohl durch seine eigenen Reisen angehäuft wie auch den Berichten anderer Seemänner entnommen hatte, zumindest jener Seemänner, die er achtete.
Sein Gedächtnis, das in anderen Dingen so vergesslich war, hatte das zweifache Vermögen eines Schwammes und eines Schlosses: Es saugte alle Informationen über das Meer auf und ließ sie nicht mehr entkommen.
Diese Begabung hielt uns nach Filipas Tod in unseren letzten Lissabonner Jahren am Leben, als Filipas Familie, allen voran ihre Mutter, uns schon aufgegeben hatte.
Jeden Morgen gelang es mir für zwei Stunden, Cristóbal aus seinen Träumen zu holen.
Ich gab ihm einen Ort vor, zum Beispiel den Westen der irischen Insel. Ich gab ihm ein Datum: den Monat Mai. Er schwieg eine Weile und runzelte die Stirne. Dabei ging er sozusagen in seinem Hirn spazieren. Was er suchte, war schnell gefunden. Und ich malte die Karte nach seinen Anweisungen.
«Eine Strömung von einem halben Tausend zieht von Südwesten entlang der Küste hinauf. Die Winde kommen an einem von drei Tagen aus Westen und sind häufig stärker als zwanzig Knoten.»
Das war der Grund für unseren Erfolg: Die Karten der «Brüder Colombo» verschränkten die Orte und die Jahreszeiten, die Winde und die Strömungen viel genauer als je eine Seekarte vor ihnen. Andererseits waren sie umsichtig genug, keine Gewissheiten zu behaupten. Sie stellten nur dar, womit man wahrscheinlich rechnen musste: «Im Dezember ist vor der Küste Portugals mit einer Wahrscheinlichkeit von drei zu vier mit Winden aus den westlichen, nordwestlichen oder südwestlichen Sektoren zu rechnen, und ihre Windstärke wird mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei zu drei höher als fünfundzwanzig Knoten sein…»
Wer noch nie zur See gefahren ist, wird sich wundern, dass man sich mit solchen Ungewissheiten zufriedengeben kann; Seefahrer aber wissen, dass ihr Reich ständig in Bewegung ist und dass es in diesem Reich nur bescheidene Wahrheiten, nur schwache Sicherheiten gibt.
Damals, und nur damals, wurde meine Geduld belohnt, und Cristóbal war bereit, mir das Rätsel der
Volta do mar
zu erklären, das mir seit seinem Besuch im Jahr 1473 nicht aus dem Kopf gegangen war.
«Nichts ist einfacher, Bartolomeo. Entlang den Küsten Afrikas bläst praktisch fortwährend Nordostwind. Die Hinfahrt ist daher für die Schiffe kein Problem: Sie segeln ruhig hinunter, als würde die Hand Gottes sie antreiben. Die Rückfahrt ist ungleich schwieriger: Da müssen die Schiffe gegen die Winde segeln, die ihnennun entgegenwehen. Hier muss man dem Mut und dem Scharfsinn unserer portugiesischen Freunde huldigen…»
Dass Cristóbal jemand anderen als sich selbst würdigte, kam so selten vor, dass ich aufschreckte.
«Diese Seefahrer haben es gewagt, aufs offene Meer hinauszusegeln, um dort eine andere Windströmung zu finden.»
«Die sie offenbar auch fanden…»
«Als sie Richtung Nordwesten segelten, nutzten sie die Nordostwinde, statt sich ihnen entgegenzustellen. Und ab den Azoren hatten sie es wieder mit Westwinden zu tun. Sie mussten sich nur noch von ihnen tragen lassen, um nach Lissabon zurückzukehren. Sie waren im Kreis gesegelt, daher der Name
Volta.
Auch ich werde im Kreis segeln. Ich werde ihn allerdings vergrößern.»
Bei aller für uns üblichen Mäßigung, an jenem Abend tranken wir fröhlich auf die
Volta.
Mit einer Stimme, die immer belegter klang, dankte ich meinem Bruder. Nie zuvor hatte es mir so eingeleuchtet, dass die Seefahrt eine Wissenschaft des Umwegs, eine Tochter der Bescheidenheit und der Hartnäckigkeit ist. Man stellt sich nicht dem entgegen, was stärker ist als man selbst. Ohne deshalb jemals das letzte Ziel seiner Reise aufzugeben.
Ohne
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