Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
abzuholen.
Entweder war von ihm nur noch das Skelett übrig, was niemanden bekümmerte. Es war Gottes Wille, dass der Übeltäter für seine Missetaten büßte.
Oder er winkte heftig mit den Armen, damit man auf ihn aufmerksam wurde. Damit war der Beweis erbracht, dass er nochlebte. Wie aber hätte man dem Tod anders entrinnen können als dadurch, dass man von den Eingeborenen angenommen wurde? In dem Fall sprach der Ausgesetzte ihre Sprache. Man brauchte dieses Wissen im Kopf des Ausgesetzten nur abzuschöpfen wie ein Bienenzüchter den Honig aus dem Bienenstock.
Die anderen Buchhändler begnügten sich damit, in den Hafen zu gehen und den Schurken im Schnellverfahren zu befragen. Sie legten ihm unsere hundert gebräuchlichsten Wörter vor, und der Verurteilte übersetzte sie. Wenn er klug war, wunderbar. Wenn er keinen Verstand und auch kein Gedächtnis hatte, wimmelte das «Wörterbuch» von Fehlern und Lücken, die für Reisende gefährlich waren.
Wer ein guter Koch sein will, muss selbst auf den Markt gehen. Ich ging in die Gefängnisse. Ich suchte mir die künftigen Ausgesetzten selbst aus. Zuvor hatte ich die Akten studiert, die Gründe für ihre Verurteilung sorgfältig geprüft. Aufgrund meiner langen Erfahrung erlaube ich mir zu sagen, dass der beste Mann für ein Wörterbuch ein schwindelnder Mörder ist: Seine Gewalttätigkeit ermöglicht es ihm, die Angriffe der Wilden abzuwehren, während seine Sprechlust (welcher Schwindler redet nicht gern?) ihm zugleich Lust macht, die Wörter, die er hört, zu gebrauchen und so im Gedächtnis zu behalten.
Wie sich herausstellte, waren alle anderen Ausgesetzten für den Auftrag, der ihnen anvertraut war, weniger tauglich. So die Mörder aus Leidenschaft. Kein Verbrecher hat mich mehr enttäuscht als sie: Sobald es nicht mehr um die vergötterte Frau geht, werden sie zahm wie Lämmchen und in der Folge allzu leichte Beute für die Mauren und selbst für die Schwarzen. Worte hassen sie: Die Sprache hat in ihrem Leben nur dazu gedient, dass man sie belog.
Ich bin Genuese und daher Kaufmann. Was ist ein Hersteller von Wörterbüchern? Ein Händler. Er tauscht eine Sache gegen einWort, das die Sache bezeichnet. Oder er tauscht ein Wort gegen ein anderes, vorausgesetzt, beide bezeichnen dieselbe Sache. Diese geduldige Suche nach Entsprechungen macht die Arbeit eines Brückenbauers aus.
Man wird meinen Klagen entgegenhalten, Cristóbal habe mit seinen Entdeckungen auch eine Brücke über das Weltmeer geschlagen. Was ließe sich dagegen schon einwenden? Meine Brücken sind winzig, kaum sichtbar, immer ungewiss. Wer kann sagen, es gebe eine echte Verbindung zwischen dem Wort
baay
aus der Wolof-Sprache und dem, den man bei uns
Vater
nennt, wo doch
baay
ebenso die Brüder des Vaters, seine Cousins und sogar seine Freunde meint? Wer kann behaupten, dass man dieselbe Wirklichkeit meint, wenn man das höchste Wesen in der Lingala-Sprache,
Nzambe,
mit dem Wort
Gott
übersetzt?
Ich stöhne wieder einmal. Und werde selbstgefällig.
Meine kleinen Wörterbücher waren ein recht einträgliches Geschäft. Doch vor allem verdankten wir es Cristóbal, dass wir die Jahre von 1481 bis 1484 überlebten.
Die Ehre gebührt hier mehr seinen Karten als meinen unglaublichen Wörterbüchern.
Seine Kenntnisse reichten weit in der Zeit zurück. Einmal mehr erinnere ich mich an Genua. Genua war unsere Genesis, der Kessel, in dem wir zubereitet wurden. Seit Genua haben wir uns eigentlich nur noch weiterentwickelt.
Mein Bruder war noch keine zehn Jahre und setzte schon alles daran, auf einem Schiff anzuheuern, wozu mein Vater ihm noch keine Erlaubnis gab. Eines Tages sah ich ihn etwas auf ein Brett kritzeln und fragte:
«Was tust du da?»
«Ich fange an, meine Seekarte zu zeichnen. Es wird die erste sein!»
Die Angebereien meines Bruders gewohnt, ging ich normalerweisenicht darauf ein. Aber diese sprengte alle Grenzen, deshalb verspottete ich ihn.
Wir waren schon so viel durch den Hafen gestreunt und hatten die Seemänner so sehr mit Fragen gelöchert, dass sie uns schließlich einige ihrer Geheimnisse erzählt und einige ihrer Karten gezeigt hatten. Schon damals hatten uns die Portolanos und die Inselreiche entzückt. Ich rief Cristóbal in Erinnerung, dass seit Anbeginn der Zeit zahllose Kartographen am Werk gewesen waren. Mein Hinweis minderte seinen Hochmut nicht:
«Ihre Karten verzeichnen nur die Küsten. Ihre Meere sind leer.»
«Und was willst du tun, um diese Leere zu
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