Cut
sie vor Stunden am Einlass gesehen, wo sie blass und mit zusammengebissenen Zähnen die Karten kontrollierte. Sie konnte nicht mal mehr den letzten Abend genießen. Dabei hatte sie den beiden Indien-Klassikern von Fritz Lang in der restaurierten Fassung wochenlang nachgespürt wie einem vergrabenen Knochen. Keiner von ihnen hatte geglaubt, dass sie es schaffen würde, bis die Filmrollen plötzlich auf dem Tisch lagen. Madita hatte wieder mal einen Volltreffer gelandet. Das Kino war ausverkauft. Er reckte den Kopf und versuchte die tanzende Menge zu überblicken, aber irgendwie wusste er, dass sie nicht darunter war.
Du hast dich also nach draußen verzogen. Kalte Luft schneidet deine Lunge in Scheiben. Der Schneeregen tropft vom Vordach des Kinos, unter dem du stehst, und wird vor deinen Füßen zu grauem Matsch.
Dir ist einfach nicht nach Abschied feiern. Es fühlt sich falsch an. Warum muss man überhaupt Abschiede feiern? Das dumpfe Wummern der Beats zieht dich nicht wie sonst nach drinnen, sondern lässt den Kloß in deinem Hals auf und ab hüpfen. Im Takt.
Du bist aus dem vertrauten Kreis ausgebrochen, als wolltest du das zwangsläufig folgende Gefühl der Verlassenheit schon vorwegnehmen. Es austesten wie einen alten Bekannten, den du lange nicht gesehen hast. Du versuchst dich an sein Gesicht zu erinnern. Mit Erstaunen registrierst du,, wie schnell die Zeit verflogen ist.
Es ist jetzt fast vier Jahre her, dass du das letzte Mal so richtig abgestürzt bist. Zuerst starb die Oma. Du bist wochenlang kaum aus dem Krankenhaus rausgekommen. Dann hattest du auch noch den Papierkram und die Beerdigung am Hals. Emma ging es so schlecht, dass Hinnarck sie keine Minute allein lassen konnte. Du hättest dich auch gerne irgendwo hingesetzt und geheult. Aber es war das alte Spiel. Emma heulte genug für alle und du hast die Zähne zusammengebissen.
Ausgerechnet diesen Tag, als du durchgefroren und deprimiert nach Hause kamst, haben sich deine Mitbewohnerinnen ausgesucht, um dir zu eröffnen, sie würden eine Tauchschule auf Malta aufmachen.
»Komm doch mit, was willst du noch hier oben in der Kälte?« Kalt war es, ja. Stattdessen bist du nach Harmsdorf gefahren und hast Tim endlich gesagt, dass es aus ist. Er hat geschwiegen und dich angesehen. Als hätte er es nicht schon längst gewusst. Wie ein Foto hat sich die Szene in deinen Kopf eingebrannt. Ein Mann und ein Hund, Mascha, euer Hund, vor dem alten Bootshaus unten am See. Sie wollten mit dir alt werden und du wolltest nicht. Nicht so wie Emma.
Zurück in Hamburg hast du dich in der Wohnung deiner Oma vergraben, bis du schon Angst hattest, auf die Straße zu gehen. Heute fragst du dich, was wohl passiert wäre, wenn Theresa dich nicht gefunden hätte. Vielleicht wärst du einfach verhungert. Aber Theresa hat in Harmsdorf angerufen, nachdem du in deiner alten Wohnung nicht mehr aufgetaucht bist. Hinnarck hat ihr erzählt, dass du die Wohnung in Barmbek geerbt hast. Zusammen mit einem Schwall eisiger Luft kam sie reingestürmt, hat dich kurz angesehen, ein Fenster aufgerissen und sich in den Sessel geworfen.
»Madita, wo lebst du eigentlich? Kriegst du denn gar nichts mehr mit? Du weißt doch, wie oft wir darüber geredet haben, ein Kino aufzumachen. Und jetzt schläfst du hier.«
Wie in Trance bist du ihr in die Außenwelt gefolgt, aufs Fahrrad gestiegen und zu dem alten Lichtwerk-Kino gefahren. Du bist hinter ihr über Schuttberge geklettert in den staubigen großen Saal, wo eine Hand voll Leute mit müden Augen herumsaßen. Wochenlange Verhandlungen mit der Polizei und dem Eigentümer hatten sie mürbe gemacht, und sie waren kurz davor aufzugeben. Du hast es gespürt, innerlich aufgepeitscht wie du selber warst.
Theresa hat nichts gesagt, dich nur angestoßen. Und du hast angefangen zu reden. Darüber, dass du nicht glaubst, das Publikum sei zu doof für gute Filme. Über die Kinomafia und über Verleihpolitik. Und über Filme natürlich. Am Anfang war deine Stimme kaum zu verstehen, weil du wochenlang den Mund nicht aufgemacht hattest. Nach einer Weile hast du gemerkt, wie die Gesichter sich dir nach und nach zuwandten. Besonders ein Gesicht, Nikolaus.
Abrupt knallen Stimmen und Musik an dein Ohr. Ein paar Leute kommen aus dem Kino, mustern dich flüchtig im Vorübergehen, eine Gestalt in Jeans und Turnschuhen, kurze Haare. Routinemäßig nimmst du das Aufflackern der Blicke wahr, dieses unausgesprochene: »Woher kommst du?« Nicht unbedingt feindselig,
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