Cut
1 Kino
Der Mann liegt regungslos in der Badewanne. In der Hand hält er ein kleines silbernes Diktiergerät, das sein eigenes Laufgeräusch aufzeichnet. Ein kaum hörbares rhythmisches Schaben, wenn das Band über den Tonkopf läuft.
Cut. Die Kameraperspektive erfasst jetzt das gesamte Badezimmer im Weitwinkel. Der weiß gekachelte Raum, keine persönlichen Dinge, nur zwei kleine bedruckte Fläschchen für Shampoo und Duschgel und ein unbenutztes Zahnputzglas. Ein weißer Bademantel, auf dem Klodeckel abgelegt.
Cut. Die Kamera hat sich dem Boden zugewandt. Reproduktionen alter Schwarz-Weiß-Aufnahmen, einige davon so unscharf, dass man die marschierenden Soldaten darauf nur erahnen kann. Ein Moment der Privatheit, mitten im Krieg: Drei Offiziere lächeln verkrampft ins Objektiv des Fotografen. An ihren Kragen leuchten die Abzeichen der deutschen Wehrmacht. Die Kamera bleibt irritiert hängen. Einer der Männer sieht nicht aus wie ein Deutscher. Seine Haut, seine Augen, sein Haar sind dunkel. Wie bei dem Mann in der Badewanne, dessen Hand mit dem elektrischen Gerät gerade langsam über die abgerundete Kante aus weißem Porzellan rutscht.
Das Klingeln eines Mobiltelefons durchschneidet die Stille und löst eine Kettenreaktion aus. Mehmet Khan wacht auf, starrt auf seine Hand mit dem Diktiergerät, wird sich der Gefahr bewusst und wirft das Ding panisch aus der Badewanne. Mit einem unangenehmen Knirschen schlägt es auf die Fliesen. Mehmet springt auf, Wasser spritzt auf die Fotos. Er zwängt sich fluchend, astreines Britisch fluchend, in den Bademantel und schliddert aus dem Zimmer.
Cut. Die Kamera irrt suchend umher, folgt seiner Stimme und findet ihn schließlich, wie er vor dem Fenster steht und in sein Handy spricht.
»Alan! Ja, dir auch ein frohes neues Jahr. Nein, Liz ist in London, sie ist heute Morgen von Paris abgeflogen. Ich bin da in Frankreich auf etwas gestoßen –«
(Pause)
»Nein, verdammt, es ist nicht zu teuer. Ich habe den Artikel schon fast komplett. Ich brauche nur noch einen Zeitzeugen. Und ich habe einen aufgetan, hier in der Nähe von Hamburg. Ja, du hast richtig gehört. Hamburg. Alan, ich kenne unser Budget!« Er drückt eine Taste, murmelt »Idiot« und legt seinen Kopf an die kühle Scheibe.
Leichter Schneeregen hat das Fenster mit einem Schleier überzogen. Passanten ziehen Mehmets Aufmerksamkeit auf sich. Junge Deutsche. Wiedervereinigt. Ausgelassen. Über der Tür, aus der sie herausgekommen sind, leuchtet ein weißes Neonschild mit blauer Schrift. Fritz Lang: Das indische Grabmal entziffert er mühsam.
»Quatsch, Madita!« Du kannst Theresas hochgezogene Augen brauen hinter der rechteckigen schwarzen Brille vor dir sehen. »Das ist doch kein Filmanfang, du musst das subtiler angehen.«
Hundertmal, tausendmal müsst ihr beiden als Letzte, bis es dämmerte, im Kino gesessen haben. Jede mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, die Asche einfach auf den Boden, wo jemand die Kippen einer langen Filmnacht zu kleinen Häufchen zusammengefegt hatte. Ab dem dritten Bier habt ihr angefangen, Filme zu erfinden. Aber Theresa ist eben Expertin für Nouvelle Vague. Und du? Tatort oder was?
»Deine Vorstellungswelt ist so was von bürgerlich romantisch«, hat sie dich aufgezogen, nicht nur einmal. Du konntest nicht nachgeben. Nie. Dabei weißt du selber, dass Zufälle im Film nicht zufällig, sondern unglaubwürdig rüberkommen. Warum sollte Mehmet Khan auch ausgerechnet in dem Hotel gegenüber dem Kino gewohnt haben?
Deine Gedanken hoppeln davon, als hätte jemand Fast Forward gedrückt. Wenn du die weiteren Ereignisse bedenkst, könntest du dich allerdings als Expertin für dramatische Überschneidungen des Schicksals lizenzieren lassen. Als wärt ihr alle, du, Nick und Cal, zu Darstellern in einem überspannten Bollywood-Film geworden. Drei Stunden Melodram. Acht Songs. Opulente Tanzszenen. Exotische Drehorte. Abspann.
Vor deinen Augen materialisiert sich der in Einzelteile zerlegte TK-35. Du hast Wochen gebraucht, um einen zu finden. Er ist der Klassiker unter den tragbaren Projektoren, und wer einen hat, rückt ihn nicht so schnell wieder raus. Dieser hier stammt aus einer Nachlassversteigerung und muss jahrelang außer Betrieb gewesen sein. Du hast jedes einzelne Rädchen poliert und geölt. Jetzt wartet er darauf, dass du ihn wieder zusammensetzt.
Ein Blick auf die Uhr sagt dir, dass du seit einer vollen Stunde keinen Finger gerührt hast. Damit
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