Cyberabad: Roman (German Edition)
er, während der Zug ihn zum Entscheidungskampf bringt. Ich werde an dich denken, wenn ich es töte.
Ein hübscher weiblicher Jemadar vom ortsansässigen Zivilschutz salutiert Mr. Nandha auf dem Bahnsteig. Zwei Reihen Jawans halten die Schaulustigen mit Lathis zurück. Motorräder fahren voraus und hinterher, als der Konvoi auf die Straße biegt.
Nawada ist ein Stadtstreifen, ein Name, den man dem Zusammenschluss von vier Kuhdörfern aufgedrückt hat. Dann fielen Entwicklungszuschüsse vom Himmel, ein hingeknalltes Straßennetz, aus dem Boden gestampfte Fabriken und Lagerhäuser aus Blech, die mit Callcentern und Datenfarmen vollgestopft wurden. Man verknüpfe alles mit Kabeln und Satellitenverbindungen, klemme es ans städtische Strom netz an, und schon spuckt das Ganze millionenfach Rupien aus. Es sind die Baracken aus Aluminiumwellblech und Carbonit in Nawada und nicht die hoch aufragenden Türme von Ranapur, in denen die Zukunft von Bharat geschmiedet wird. Im schweren Armee-Hummer rollt Mr. Nandha an den kleinen Geschäften und Werkstätten vorbei. Er fühlt sich wie ein Söldner, der in eine Stadt einreitet. Motorroller mit Mädchen vom Land, die seitlich auf dem Damensattel sitzen, schwenken aus, um Platz zu machen.
Die Motorradstaffel biegt in eine Gasse zwischen Lagerhäusern aus Spritzbeton und macht mit Sirenengeheul den Weg für den Hummer frei. Ein Strommast neigt sich unter illegalen Abzapfungen. Hockende Frauen essen vor einem riesigen fensterlosen Betonkasten gemeinsam Chai und Roti zum Frühstück. Die Männer haben sich zum Rauchen so weit von ihnen entfernt versammelt, wie es die Geometrie des Geländes erlaubt. Mr. Nandha blickt zu den segnend ausgebreiteten Händen der Solarfarm von Ray Power hinauf. Gruß an die Sonne.
»Schalten Sie die Sirenen ab«, befiehlt er der hübschen Jemadar, deren Name Sen ist. »Das Ding hat zumindest die Intelligenz eines Tieres. Falls es vorgewarnt wird, könnte es versuchen, sich herauszukopieren.« Sen lässt das Autofenster aufgleiten und ruft der Eskorte Befehle zu. Die Sirenen verstummen.
Der Hummer ist ein stählerner Schwitzkasten. Mr. Nandhas Hose klebt an den Sitzbezügen aus Vinyl, aber er ist zu stolz, um sich freizuwinden. Er klemmt sich den Hoek hinters Ohr, legt den Signalgeber auf die empfindliche Stelle an seinem Schädel und öffnet die Box seiner Avatare.
Ganesha, Herr des verheißungsvollen Neuanfangs, Beseitiger von Hindernissen, thront reitend auf seiner Ratte und erhebt sich so gewaltig wie eine Gewitterwolke über die Flachdächer und Antennenfarmen von Nawada. In den Händen hält er seine Eigenschaften: den Sporn, die Schlinge, einen abgebrochenen Stoßzahn, einen Reismehlkloß und einen Topf mit Wasser. Sein Kugelbauch enthält Universen des Cyberspace. Er ist das Portal. Mr. Nandha kennt die Bewegungen auswendig, mit denen sich jeder Avatar aufrufen lässt. Seine Hand beschwört den fliegenden Hanuman mit Keule und Berg herauf, dann Shiva Nataraja, den Herrn des Tanzes, immer einen Schritt von der universellen Vernichtung und Neuerschaffung entfernt, dann Durga, die Dunkle, Göttin des gerechten Zorns, die mit jedem ihrer zehn Arme eine Waffe hält, dann Lord Krishna mit Flöte und Halskette, Kali, die Zerstörerin, um die Hüfte den Gürtel aus abgeschlagenen Händen. In Mr. Nandhas Geistsicht beugen sich die Kaih-Agenten des Ministeriums tief über das winzige Nawada. Sie sind bereit. Sie sind begierig. Sie sind hungrig.
Der Konvoi biegt in eine Lieferantenstraße. Einige Polizisten versuchen einen Menschenauflauf zu teilen, um den Hummer durchzulassen. Die Gasse ist an der Einfahrt mit Fahrzeugen verstopft, einem Krankenwagen, einem Polizeiauto, einem Elektro-Jeepney. Etwas liegt unter dem Vorderrad des Lieferwagens.
»Was ist hier los?«, will Mr. Nandha wissen, als er durch das Gedränge der Polizisten marschiert, den Ministeriumsausweis hoch erhoben.
»Sir, ein Fabrikarbeiter geriet in Panik und rannte auf die Straße hinaus genau unter das Fahrzeug«, erwidert ein Polizeisergeant. »Er hat etwas von einem Djinn geschrien. Ein Djinn sei in der Fabrik und würde sie alle holen.«
Ihr nennt es Djinn, denkt Mr. Nandha und blickt sich um. Ich nenne es Mem. Immaterielle Replikatoren: Witze, Gerüchte, Sitten, Kinderlieder. Viren des Geistes. Götter, Dämonen, Djinns, Aberglaube. Das Ding in der Fabrik ist kein übernatürliches Wesen, kein Geist einer Flamme, sondern eindeutig ein immaterieller Replikator.
»Wie viele sind
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