Die bestellte Braut
Ich sehe jeden Tag so viele hübsche, junge Damen, bei denen es mir ein Rätsel ist, warum sie noch nicht verheiratet sind.
1,85 Meter, dunkle Augen und schwarze Haare. Vielleicht würde er sogar einen Bart haben! Nun ja, warum auch nicht? Obwohl... Wie wahrscheinlich war es, dass ihr zukünftiger Ehemann genau ihren Wunschvorstellungen entsprechen würde? Am Ende war er blond, nur so groß wie sie und hatte einen Bierbauch! Doch mitten in ihren Überlegungen konnte die junge Frau die Stimme ihrer verstorbenen Mutter hören: Kind, im schönsten Apfel kann ein dicker Wurm sitzen. Du kannst die Menschen nicht nach ihrem Äußeren...
Ein harter Knuff in den Rücken brachte Steffiney O'Brian augenblicklich in das Hier und Jetzt zurück und ließ sie unvermutet einen Schritt nach vorne stolpern. Doch bevor sie sich noch richtig umgedreht hatte, hörte sie schon eine tiefe Stimme, die sich entschuldigte.
„Verzeihen Sie, Miss, es war nicht meine Absicht. Das Gedränge hier ist wirklich unerträglich dicht. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan?“, fragte der Gentleman, der sich ganz offensichtlich für den Zusammenstoß verantwortlich fühlte und gleichzeitig den Hut zog.
Der Herr hatte einen gepflegten dunklen Schnurrbart und trug einen eleganten Straßenanzug, der so gar nicht in das von Arbeitern bevölkerte Hafenviertel von Boston passen wollte.
„Nein, es ist nichts passiert. Danke“, antwortete die junge Frau etwas aus dem Konzept gebracht.
„Sie sollten vorsichtig sein, Miss. Es steht mir nicht zu, mich einzumischen, aber eine Dame wie Sie sollte sich nicht in so einer Gegend aufhalten. Zumindest nicht ohne Begleitung. Darf ich Sie vielleicht irgendwohin bringen?“ Die ehrliche Besorgnis in der Stimme des Gentlemans war deutlich herauszuhören und Miss O'Brian neigte dankend den Kopf.
„Sie haben Recht, aber ich habe hier einen Termin. Ich werde mir danach sofort eine Droschke nehmen, um in die Stadt zu fahren. Haben Sie vielen Dank für Ihre Sorge“, lächelte die junge Frau und nachdem der fremde Herr noch einmal den Hut gezogen hatte, ging er davon. Allerdings nicht ohne einen Blick zurückzuwerfen, ob Steffiney ihren Weg in das etwas heruntergekommene Gebäude in der Fisher Row am Hafen sicher fand.
Was sie auch tat und darüber hinaus sogar mit einem Lächeln im Gesicht. Wenn ihr zukünftiger Ehemann auch nur halb so aufmerksam sein würde wie der fremde Gentleman auf der Straße eben, dann war das hier sicher nicht die schlechteste Idee, die sie in ihrem Leben gehabt hatte.
Im Inneren des Gebäudes, das eigentlich wie ein kleines Lagerhaus aussah, führte eine schmale, hölzerne Stiege einige Stufen hinauf und überall roch es nach Fisch. Steffiney war mehr als erleichtert, als sie oben angekommen die kleine Tür aufstieß, die in den Warteraum von Mr. Smiths Büro führte.
Sie hatte sich schon bei ihrem ersten Besuch hier gefragt, warum ein Heiratsvermittler sich ausgerechnet in Bostons schäbigem Hafenviertel niederließ und nicht direkt in der Stadt, wo sicher noch mehr heiratswillige Frauen den Weg in sein Büro gefunden hätten. Aber wahrscheinlich war die Vermittlung von Frauen in den Westen, wie jedes Geschäft, das seinen Mitmenschen helfen sollte, nicht besonders einträglich.
Nun, immerhin roch es hier oben nicht mehr so penetrant nach Fisch wie eben im Treppenaufgang. Steffiney nahm mit einem zuversichtlichen Lächeln auf einem der wackligen Holzstühle Platz und wartete.
Mr. Smith war ein vielbeschäftigter Mann und er rief die einzelnen Damen auf, wenn er soweit war. Diesmal war sie allerdings, im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch hier, allein in dem kleinen Warteraum.
Sie war überrascht gewesen, dass Mr. Smith sich innerhalb einer Woche schon wieder bei ihr gemeldet hatte und sie noch einmal in sein Büro bat. Er hätte bereits einen passenden Kandidaten gefunden und wenn sie interessiert wäre, dann sollte sie ihn doch so schnell wie möglich aufsuchen, hatte in dem kurzen Telegramm gestanden.
Gestern Abend war es im Haus von Mrs. Ruly abgegeben worden, wo sie ein kleines Zimmer unter dem Dach bewohnte und verköstigt wurde.
Und gleich heute, nachdem sie ihre Schicht im Bostoner Stadtkrankenhaus beendet hatte, war sie hierher geeilt. Es war nicht so, dass sie die Arbeit als Krankenschwester nicht mochte, aber mit 27 Jahren noch unverheiratet zu sein, war im Lebenslauf einer Frau nun mal ein Makel. Und Steffiney O'Brian war fest entschlossen diesen Makel zu tilgen.
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