Cyboria - Die geheime Stadt
sah aber niemanden. Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe? , fragte er sich.
Otto fuhr jetzt stehend und trat noch kräftiger in die Pedale. Das unebene Asphaltsträßchen ging schnurgeradeaus, rechts der Kanal, links die Lindenbäume.
Er war fast schon am Steinbruch.
Tief über den Lenker gebeugt raste er weiter, auf das Knirschen und Quietschen des Fahrrads achtete er nicht weiter. Schließlich erreichte er den verrosteten Gitterzaun des Steinbruchs. Auf dem Kiesweg zog er jetzt eine Staubwolke hinter sich her. Vor einer Lücke im Gitterzaun bremste er. Sie war kaum zu sehen, da sie zu einem großen Teil von einem Erdbeerbaum und Mastixgestrüpp verdeckt war. Otto sprang ab, drückte die Äste zur Seite und schob das Rad durch die Lücke im Gitter. Dann kroch er ebenfalls hindurch. Tief geduckt, das Fahrrad eng an sich gedrückt, schlich er sich zu einer niedrigen Blechhütte hinter einem Pistazienstrauch. Sie war komplett mit einer dicken Rostschicht überzogen, die ihn an eine Käserinde erinnerte. Dahinter versteckte er sich.
Erst jetzt kam ihm wieder in den Sinn, richtig durchzuatmen. Den Rucksack an die Blechhütte gepresst, die Augen auf den blauen Himmel gerichtet, riss er den Mund weit auf, um möglichst viel Sauerstoff einzusaugen.
Er keuchte, doch nach und nach wurde sein Atem ruhiger.
Es vergingen etwa drei, höchstens vier Minuten. Das Motorgeräusch wurde lauter; anfangs klang es wie ein heiseres Krächzen, um anschließend in dumpfes Brüllen überzugehen. Otto schloss die Augen. Warum konnte er sich nicht einfach in Luft auflösen?
Das bedrohliche Geräusch kam immer näher, es klang, als wäre eine Schar lästiger Insekten im Anflug. Er hörte die Mofas beschleunigen, dann ebbte das Dröhnen der Motoren wieder ab. Otto blieb noch eine gefühlte Ewigkeit reglos sitzen, bis er wirklich ganz sicher war, dass er nichts mehr zu befürchten hatte. Er zählte die Minuten. Seine Verfolger hatten sicher schon die Abzweigung nach Pappiana und San Giuliano erreicht und überlegten, in welche Richtung sie weiterfahren sollten.
Otto kauerte am Boden. Seine Kleidung war mit weißem Marmorstaub überzogen, und er begann zu lachen. Nervös zu Beginn, dann klang sein Lachen allmählich befreiter.
»Ich hab’s geschafft, Opa«, murmelte er glücklich und schloss Frieden mit diesem Tag.
Als er endgültig zur Ruhe gekommen war und wieder klar denken konnte, begutachtete er den Schaden. Sein Sigur-Rós-T-Shirt konnte er nur noch wegschmeißen; der Aufdruck hatte sich abgelöst, als er über den Boden gerobbt war. Ein Eisenhaken hatte ihm den Träger des Rucksacks aufgerissen, auf dem er seine Lost-Sticker und den Charles-Darwin-Button befestigt hatte. Die waren ihm besonders wichtig, da er sie im Internet bei Räum-den-Dachboden-auf.com gefunden hatte.
Der Zustand des Fahrrads war noch schlimmer, bei seiner Flucht hatte er den Dynamo am Vorderrad verloren.
»Na dann adieu, geliebter Scheinwerfer«, murmelte Otto und strich wehmütig über die Felge des 28-Zoll-Fahrrads.
Die Kette wackelte ein wenig und blieb bei jeder Umdrehung leicht hängen, aber mit ein bisschen Öl würde man das wieder hinbekommen. Die Bremsklötze des Hinterrads hingegen schienen schwer beschädigt, sie klebten fest, die Bremswirkung war gleich null. Das war ein echtes Problem, denn jedes Mal, wenn Otto sich auf die Suche nach Ersatzteilen für diesen Fahrradoldtimer machte, musste er mehr hinblättern als für ein ultramodernes Carbon-Mountainbike mit neuester Technik.
Auch die tiefen Kratzer auf dem Rahmen würde er ausbessern lassen müssen. Seufzend stieg Otto wieder in den Sattel, aber es war der Seufzer eines Siegers.
Er grüßte die verrostete Stahlgiraffe, die sich bedrohlich und irgendwie auch traurig über ihm erhob: ein ramponiertes Förderband, das offensichtlich seit Jahren stillstand und früher dazu gedient hatte, die aus dem Berg geschlagenen Marmorsteine zu transportieren.
Er dankte der Blechhütte für den Schutz, den sie ihm gewährt hatte, dann fuhr er auf dem Kiesweg in Richtung der Hügel, wobei er eine Wolke aus weißem Staub hinter sich herzog.
19
Villa Folgore
D er Gitterzaun, der den stillgelegten Steinbruch umgab, hatte auf der anderen Seite noch eine zweite Lücke. Büschel von Taubenfedern, die dort hängen geblieben waren, bewiesen, dass Otto nicht der Einzige war, der die Öffnung kannte. Er quetschte das Fahrrad hindurch, erreichte die Staatsstraße, die in Serpentinen in die Pisaner Berge
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