Zersetzt - Thriller (German Edition)
Prolog
Heute
Es hielt sie mit aller Kraft in den Wirrungen und Verzweigungen seiner Untiefen gefangen. Gefangen auf einer Bewusstseinsebene, der sie machtlos gegenüberstand und auf die sie keinen maßgeblichen Einfluss hatte. Ihr Körper lag leblos auf einer Trage, doch im nächsten Moment öffnete sie ihre Augen und ihr Leib begann zu zittern. Ein karg eingerichteter Raum, nur der grelle Schein eines Strahlers, der direkt auf sie gerichtet war. Sie ließ ihren Kopf nach rechts fallen und sah Messer, die akribisch der Größe nach geordnet auf einem Beistelltisch lagen. Die Klingen reflektierten das grelle Licht. Mit einem lauten Knarren wurde eine Tür geöffnet und quietschende Schuhsohlen kamen Schritt für Schritt näher. Der Fremde machte sich an den glänzenden Utensilien zu schaffen. Sie strampelte panisch, doch dies verursachte nur eine Straffung der Fesseln, die ihre Gliedmaßen gefangen hielten. Sie schnürten sich immer tiefer in das Fleisch ihrer Hand- und Fußgelenke und stoppten die Blutzufuhr. Der Unbekannte griff nach dem größten Messer und einem Bunsenbrenner. Ein Reflex befahl ihr, die Augen zu schließen, doch die Person fixierte ihre Lider mit einem Klebeband. Sie wollte entfliehen, diesem Wahnsinn entkommen. Sie riss abermals an den Bändern und wollte schreien, das verhinderte jedoch der Knebel in ihrem Mund. Mit geübter Hand brannte ihr Peiniger die Klinge ab und drehte sich zu ihr um. Sie roch das glühende Eisen, das sich langsam ihrem Augapfel näherte. Die Spitze der roten Glut hatte die Bindehaut fast erreicht.
Als hätte jemand den Antennenstecker des Bildschirmes gezogen, sah sie nur noch ein Flimmern vor ihrem geistigen Auge. Mit aller Macht wollte sie diesem Albtraum entfliehen, doch dann änderte sich schlagartig das Bild. Gefangen in einem engen Raum, eine klaustrophobische Angst, die ihr die Luft abschnürte und sie zu einer Hyperventilation zwang. Ihre Blicke schweiften nach oben. Dunkle Schatten krochen in amphibischen Bewegungen über die mit Nägeln bestückten Wände. Diese rückten Stück für Stück näher und drohten sie zu zerquetschen. Sie öffnete den Mund, wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie brachte keinen Ton hervor. Je weiter sie sich von den Schatten entfernen wollte, desto näher kam sie den scharfen Metallspitzen. Wie Rasiermesser zerschnitten sie jedes Stück Stoff auf ihrer Haut.
Es war nur ein Albtraum!? Sie wollte die Geschehnisse zwischen Realität und Täuschung rekapitulieren, doch es gelang ihr nicht. Die Bilder veränderten sich, sie waren wie in Nebel gehüllt. Schritte kamen auf sie zu. Durch den milchigen Schleier konnte sie das Gesicht der Person, die sich jetzt über sie beugte, nicht genau erkennen. »Wer sind Sie? Wo bin ich?« Einzelne Wortfetzen drangen an ihr Ohr, aber die Gestalt sprach nicht mit ihr. Wieder versuchte sie, sich darauf zu konzentrieren, ihr volles Bewusstsein zu erlangen.
Über die Venen schoss es in ihren Blutkreislauf, gelang über die Kapillare in das Netzwerk ihrer Organe und setzte sich in jeder Zelle ihres Körpers fest. Die Bilder wurden unscharf und das Flackern, das sich wie ein Lauffeuer in ihren Augen ausbreitete, explodierte in einem schwarzen Nichts.
Kapitel 1
Vor zwei Tagen
S ie drückte den Klingelknopf neben dem Praxisschild »Dr. Johanna Seifert - Fachärztin für Psychologie« und eine wiederkehrende Melodie war zu hören. Julia hoffte, dass sich die Psychiaterin auch außerhalb ihrer Sprechzeiten, die auf dem Acrylglasschild ausgewiesen waren, in ihrer Praxis aufhielt. Durch die zerrissene Bluse betrachtete sie die Wunde an ihrer Schulter. Das Blut war bereits getrocknet. Sie spürte die gebrochene Rippe, die ihr wenig Luft zum Atmen ließ, und die Prellungen, die sich über einige ihrer Körperregionen verteilten. Dennoch waren dies ihre geringsten Probleme. Ihre linke Hand, deren Hautoberfläche eine Verbrennung zweiten Grades aufwies, war zwar Tage zuvor medizinisch versorgt worden, allerdings vernebelten die starken Schmerzmittel nur ihre Sinne und betäubten kaum die höllischen Schmerzen. Der plötzliche Regenschauer, in den sie auf dem Weg zu Dr. Seifert geraten war, hatte ihren Verband aufweichen lassen. Aus den vollgesogenen Kleidern tropfte das Wasser herab und bildete bereits eine kleine Pfütze auf der Fußmatte. Sie betätigte erneut den Klingelknopf, doch hinter der Tür war kein Klacken von Schuhsohlen zu hören, kein Räuspern, das
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