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Cyboria - Die geheime Stadt

Cyboria - Die geheime Stadt

Titel: Cyboria - Die geheime Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. Baccalario
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Tiere, mit denen sie durch die Wälder gestreift waren. Und die rationalen und irrationalen Zahlen, die Koordinaten und Entfernungen im Universum, sämtliche Nullen, die Otto sich hintereinander vorstellen konnte.
    All das und noch vieles mehr zog vor seinem inneren Auge vorbei, und schließlich sagte der Großvater mit kaum hörbarer Stimme: »Öffne die Schachtel.«
    Otto glaubte sich verhört zu haben. »Welche Schachtel, Opa?«, fragte er.
    Aber Primo antwortete nicht.
    Die Augen seines Großvaters waren erloschen, aber auf seinem Gesicht lag immer noch die Andeutung eines Lächelns.
    Doch es wurde immer schwächer.

17
In der achteckigen Bibliothek
    S tille.
    Schritte.
    Geräusche.
    Stimmen.
    Hinter Otto tauchten plötzlich Menschen im Dämmerlicht des Zimmers auf. Er hörte die Stimme seines Vaters Sisifo. Die Hände seiner Mutter versuchten, ihn vom Bett wegzuziehen.
    »Geh zur Seite, Otto. Mach Platz. Der Arzt muss ihn untersuchen.«
    Otto wich zurück. Unter seinen Fingern spürte er den glatten Samtstoff des Sessels, auf dem sein Großvater viele Stunden gesessen und gelesen hatte, so oft und so lange, dass sein Körper fast einen Abdruck hinterlassen hatte. Dann hörte er das Knarren der Tür, es war wie ein Bewegungsmelder. Er sah seine Mutter weinen. Immer wieder sagte sie: »Ich wollte nicht, dass du ihn so siehst. Ich wollte nicht … Er hat dich rufen lassen, Otto. Es tut mir so leid.«
    Wie ein Roboter ging Otto in sein Zimmer zurück. Er setzte sich vor seine Projekte, sah auf die Pläne seiner selbst konstruierten Maschinen. Schob die Werkzeuge zur Seite. Hörte auf die Schritte der anderen, die sich im Haus bewegten und die Stille zerstörten.
    Jetzt , dachte er, jetzt ist es passiert. Mein Großvater ist tot.
    Die Uhr zeigte 14:41 Uhr.
    »Ticktack«, murmelte Otto und musste lächeln.
    14:41 war eine besondere Zahlenkombination. Man konnte sie von beiden Seiten lesen. Ein Palindrom.
    Wie immer hatte sein Opa recht gehabt: Auch die größten Geheimnisse sind im Grunde nichts als Zahlen.
    Dann begannen die Zahlen der digitalen Uhr immer schneller zu laufen. Otto hätte sich am liebsten in sein Zimmer eingeschlossen, wie einen Gegenstand, den man dort abgelegt und einfach vergessen hatte. Wie gern hätte er geweint, aber dafür war keine Zeit. In der Villa Folgore herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, es gelang ihm einfach nicht zu trauern.
    Verwandte, Freunde und viele Unbekannte kamen ins Haus. Sie alle kamen, um seinem Großvater die letzte Ehre zu erweisen. Warum war es nur so wichtig, sich von jemandem zu verabschieden, der gar nicht mehr am Leben war?
    Otto lag angezogen auf seinem Bett und hörte die Autos ankommen, er hörte die Gespräche der Trauergäste, die den schmalen Weg zum Haus hinaufschritten. Die üblichen Worte, die üblichen Sätze.
    »Wie ist es passiert?«
    »War er schon länger krank?«
    »Er hatte doch eine eiserne Gesundheit.«
    »Ein brillanter Kopf!«
    »Er hatte ja ein stolzes Alter erreicht!«
    »Professor Folgore Perotti! Ich weiß noch, damals, als ich mit ihm auf der Uni war …«
    Mit diesen Stimmen im Ohr schlief Otto immer wieder ein und erwachte dann, ohne sich wirklich darüber im Klaren zu sein, was davon Traum und was Realität war. Es gab Phasen, in denen er überglücklich und fest davon überzeugt war, dass sein Großvater noch am Leben war, dass er sich das alles nur eingebildet hatte. Aber sobald er das Zimmer verließ und das Stimmengewirr der Menschen hörte, die ins Haus kamen und es wieder verließen, verschwand jede Illusion. Im großen Salon, wo Otto immer mit seinem Großvater Schach gespielt hatte, stand der offene Sarg.
    Auf dem Schachbrett des Lebens gibt es kein Remis. Entweder ich gewinne oder du. Und auch wenn du den ersten Zug machst, wirst du am Ende nicht gewinnen.
    Als er seinen Zufluchtsort verließ, trug Otto den Anzug, den seine Mutter ihm für die Totenwache herausgelegt hatte. Es wimmelte von festlich gekleideten Männern und Frauen, einige standen auf der Treppe, andere saßen auf Bänken und Stühlen im Garten, wo sonst nie jemand saß, und wieder andere schlenderten durch die Räume neben dem Zimmer seines Großvaters.
    Wer waren all diese Menschen?
    Otto vermied jeden Kontakt mit ihnen. Wie ein Schatten glitt er durch den mit dunklem Nussbaumholz verkleideten Flur und schlüpfte in den hintersten Raum des ersten Stocks, die achteckige Bibliothek der Villa Folgore. Er hoffte, dass dort niemand sein würde.
    Die Bibliothek

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