Da geht noch was: Mit 65 in die Kurve (German Edition)
Bilder kommen aus den Sechzigerjahren, kurz vor dem Abitur. In meiner Klasse gab es eine Bettina. Schon falsch: Ich war in ihrer Klasse, durfte dort sein, wurde gerade noch so eben geduldet. So hat es sich angefühlt.
Bettina war beliebt, sehr hübsch, eine Bestimmerin mit reichen Eltern, den richtigen Klamotten und einem Haufen Freundinnen.
Ich gehörte nicht dazu, auch nach fünfzig Jahren eine unangenehme Erinnerung.
Seither begegne ich Bettina-Frauen eher zurückhaltend, sie sind mir nebelhaft überlegen. Bettinas sind in meinem Kopf blond. Immer.
Ein intelligentes Blond. Und sie haben was, was ich auch gern hätte, aber nicht mal definieren kann. Es gibt noch immer keine Bettina in meinem Freundeskreis.
Es gab eben auch nie einen Roland, jedenfalls keinen, um den ich mir große Gedanken gemacht hätte.
Der einzige Roland in meinem Leben war ein studentischer Nachbar, Bayer, schon mit 21 Jahren verheiratet und in geordneten Verhältnissen lebend. Später hat ihn seine Frau erst betrogen und dann verlassen. Was er danach noch aus seinem Leben gemacht hat, keine Ahnung.
Ich merke gerade, dass selbst dieses unverbindliche Tür-an-Tür-mit-einem-Roland-Wohnen ein bestimmtes Bild in meinem Kopf verankert hat.
Rolands sind ein bisschen langweilig, fast altmodisch, teilen sich Geld, Liebe und Leidenschaft vorsorglich gut ein.
Bloß nicht zu üppig. Besser nichts riskieren.
Den Kopf vor lauter Glück verlieren? Ausgeschlossen.
Ein Name ist eine Botschaft aus der Erinnerung.
Vor mir steht jetzt ein Roland, Mitte vierzig, schätze ich. Grau-braun-grün gekleidet, Farbe bringt er sicher eher zurückhaltend in sein Leben. Scheu wirkt er, schüchtern. Für das, was ich mit ihm vorhabe, eher hinderlich.
Ich habe Roland in der Auszeit getroffen, im Zen-buddhistischen Kloster. Er saß mir während der Meditation gegenüber. Heimliches Hinschielen von meiner Seite, nach den Regeln geht der Blick besser ins Ungefähre, nach unten auf die eigenen Füße und dann noch dreißig Zentimeter weiter nach vorn.
Mehr nicht, alles andere lenkt ab, ist pure Neugier, beschäftigt die Gedanken über Gebühr. Die sollen sich ausruhen. Was mir nicht eine Minute lang gelingt.
Ich will diesen Mann kennenlernen.
Rein beruflich. Will ein Interview mit ihm machen, wissen, was ihn zu diesen Schweigetagen gebracht hat, wer er ist, was er macht. Welche Hürden er in seinem Leben noch nehmen will, welche er schon gerissen hat.
Ich spreche ihn außerhalb der Schweigezone an, in einem Café, das zum Kloster gehört. Es braucht nicht mal viel Überredungskunst, er zögert kaum merklich. Wir setzen uns hin, kurzes Vorgeplänkel, damit er locker bleibt und nicht erstarrt, während die Mikros angesteckt werden.
Die Kamera läuft, das Interview beginnt, ich spreche ihn mit seinem Namen an. Mache ich sonst eher selten, vielleicht will ich gleich mehr Nähe sicherstellen, als notwendig ist.
»Roland«, sage ich, »Sie haben … Da hebt er die Hand. »Entschuldigung, dass ich gleich unterbrechen muss«, sagt er. »Aber ich heiße nicht Roland, ich heiße Thomas.«
Er heißt Thomas.
Mein fein konstruiertes Rolandbild von diesem Mann fällt unter lautlosem Getöse in sich zusammen.
Wird Millisekunden später durch eine unerwartete Erkenntnis ersetzt. Oder soll ich es Erleuchtung nennen?
Mir wird schlagartig klar, wie sehr ich mich lebenslang in meinen ständigen Vorurteilen verfangen habe. Wie sehr sie mich behindern.
Ich trete den Menschen nie unvoreingenommen entgegen. Sie bekommen, noch bevor sie überhaupt die Chance hatten, etwas zu sagen oder zu tun, eine Schublade.
Roland/Bettina-Schubladen.
Ich treffe Menschen und mache mir ungefragt ein Bild.
Wie oft ist dieses Bild falsch? Fast immer.
Wie oft habe ich mich korrigieren müssen? Sehr oft.
Wie oft habe ich mich dabei still geschämt, über so viel Voreiligkeit? Immer.
Wie viel einfacher wäre alles, würde ich die Menschen in meinem Leben nicht sofort in Schubladen stecken, aus denen ich ihnen wenig später peinlich berührt wieder heraushelfen muss? Und jetzt?
Jetzt hilft nur die Wahrheit. Und zwar die ganze.
Ich schaue diesen Schein-Roland an, der schon sein ganzes Leben ein Thomas war. Wenn man bereits mit beiden Beinen knöcheltief im Fettnapf steht, dann kann man sich auch gleich richtig reinknien.
Ich sage ihm, wer er ist. In welcher meiner Schubladen er steckt. Wie er sein Leben lebt, weil er Roland heißt.
»Junggeselle«, sage ich. »Schon sehr lange
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