Dackelblick
Mensch. Aber ist sie das für die anderen Menschen auch?
»He, Herkules, du guckst ja so nachdenklich? Willst dir Mühe geben, mich gut zu beraten? Also, es ist so: Ich schwanke zwischen diesem kurzen schwarzen Kleid hier oder dem langen anthrazitfarbenen, das ich eben anhatte. Die schwarze Hose gefällt mir doch nicht so gut. Schwierig, oder? Meine Oma sagt ja immer, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters - will heißen, jeder findet etwas anderes schön.«
Also bitte, was ist das denn für ein Spruch? Das weiß nun wieder mein Opili besser, und Carolins Oma hat offenbar keine Ahnung, sonst würde sie nicht so einen Unsinn erzählen. Vielleicht gibt es bei Menschen tatsächlich keinen klar definierten Standard, aber so etwas Ähnliches wird schon existieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder Mensch wirklich selbst entscheidet, was er schön findet. Im Übrigen habe ich neulich Abend mit Carolin eine Sendung im Fernsehen gesehen, die im Wesentlichen wie eine Hundeschau aufgebaut war. Nur ohne Hunde, stattdessen mit Frauen. Wie bei der Hundeschau liefen die Frauen einzeln vor den Richtern im Kreis und dann haben ihnen die Richter gesagt, ob sie schön sind oder nicht. Okay, die Wertungsskala reichte nicht von »Vorzüglich« bis »Nicht genügend«, aber ansonsten war es exakt dasselbe. Die Frauen, die gut bewertet worden sind, haben anscheinend irgendwas gewonnen - da sagte die Oberrichterin dann solche Sachen wie »Du darfst zum Casting«, und die jeweilige Frau hat sich ganz doll gefreut. Und zu den schlechteren Frauen sagte sie, dass es leider nicht reicht. Die haben dann geweint. Wofür es nicht reicht? Keine Ahnung. Vielleicht für die Zucht? Ist aber nur eine Vermutung. So, wo war ich? Richtig: Die Schönheit liegt eben nicht im Auge des Betrachters. Auch bei Menschen nicht. Man kann sie nachmessen.
Also, Jeans oder Rock? Was ist besser? Ich lege den Kopf schief und versuche, mir Carolin in beidem nebeneinander vorzustellen. Carolin nickt mir aufmunternd zu und hält sich noch einmal das kurze Kleid vor.
»Was meinst du, worin findet mich Jens am schönsten?«
JENS?! Carolin ist gar nicht mit Daniel verabredet? Diese schlechte Nachricht haut mich wortwörtlich von den Pfoten, und mit einem wehleidigen Jaulen rolle ich mich auf die Seite.
»Herkules!«, ruft Carolin. »Kriegst du jetzt etwa wieder so einen Anfall?«
Sie lässt das Kleid fallen, kniet sich neben mich und streicht mir über den Kopf. Da kommt mir die Idee: Wenn ich krank bin, sagt sie bestimmt die Verabredung mit diesem Jens ab. Also gebe ich noch einmal meine berühmte Parkvorstellung - mit allem drum und dran: Ich jaule und zittere, winde mich unter Krämpfen. Carolin sieht mich entsetzt an, dann springt sie auf und rennt aus dem Schlafzimmer. Uff, kurze Verschnaufpause. Ganz schön anstrengender Beruf, die Schauspielerei. Ich höre, wie Carolin offenbar mit Nina telefoniert.
»Nina? Hast du die private Telefonnummer von Marc Wagner? Herkules hat schon wieder so einen Anfall, und die Sprechstunde ist ja längst vorbei ...« Eine kurze Pause. »Danke, richte ich ihm aus.«
Sie erscheint mit dem Telefon in der Hand im Schlafzimmer. Mittlerweile liege ich auf dem Rücken und zucke nur ab und zu. Ich glaube, ich bin sehr eindrucksvoll.
»Dr. Wagner? Neumann hier, Sie wissen schon, die Freundin von Nina mit dem Dackel. Tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe, aber Herkules hatte gerade so einen Anfall und jetzt liegt er hier ganz apathisch. Ich mache mir solche Sorgen ...« Sie kniet sich wieder neben mich. »O ja, würden Sie das machen? Das ist sehr, sehr nett. Helvetiastraße 12, ein großes Jugendstilhaus. Genau, bis gleich.«
Kaum hat sie das Gespräch beendet, wählt sie eine neue Nummer. »Jens? Ich bin's, Carolin. Du, es tut mir leid, und ich weiß, das klingt jetzt saublöd: Aber mein Dackel hatte gerade wieder einen epileptischen Anfall, und jetzt kommt der Tierarzt noch vorbei. Können wir es nicht auf einen anderen Abend verschieben? Ich fühle mich nicht so gut dabei, Herkules heute allein zu lassen. Ja? Danke, ich melde mich morgen. Tschüss!«
Wenn ich nicht gerade den kranken Hund mimen würde, wäre es jetzt an der Zeit für Triumphgeheul. Leider würde dann meine Deckung auffliegen, also lasse ich es. Stattdessen liege ich einfach wie hingegossen auf dem Bettvorleger und jaule ab und zu. Carolin streichelt mich und summt vor sich hin. Soll mich wahrscheinlich beruhigen. Dann klingelt es: Dr.
Weitere Kostenlose Bücher