Daemmerung der Leidenschaft
»Träumfenster« bezeichnete, und so tun, als ob nichts geschehen wäre ... als ob Mama und Daddy nicht gestorben wären und sie sie bald wiedersehen würde.
»Mit Jessamine sieht das ganz anders aus«, fuhr die erste Stimme fort. »Sie ist eine junge Dame und kein Kind mehr – wie Roanna. Wir sind einfach zu alt, um uns noch um die Kleine kümmern zu können.«
Sie wollten also ihre Cousine Jessie, aber nicht sie. Roanna blinzelte störrisch ihre Tränen weg, während sie weiter zuhörte, wie ihre Tanten und Onkel das Problem, was sie mit ihr »tun« sollten, diskutierten; jeder von ihnen würde gerne Jessie aufnehmen, mit Roanna wäre es hingegen einfach zu schwierig.
»Ich werde ganz brav sein!« hätte sie am liebsten geheult, hielt die Worte jedoch ebenso in ihrem Innern verschlossen wie ihre Tränen. Was hatte sie bloß Schreckliches angestellt, daß keiner sie wollte? Sie versuchte immer lieb zu sein, sagte artig »Ma'am« und »Sir«, wenn sie mit Erwachsenen sprach. Lag es daran, daß sie heimlich versucht hatte, Thunderbolt zu reiten? Niemand hätte je etwas davon erfahren, wenn sie nicht runtergefallen wäre und sich das neue Kleid zerrissen hätte, obendrein am Ostersonntag! Mama hatte sie nach Hause bringen und ihr eins der alten Kleider anziehen müssen, mit dem sie dann in der Kirche erschien. Nun, eigentlich handelte es sich halt um eins ihrer normalen Sonntagskleider, anstatt um ihr tolles neues Festgewand. Eins der anderen Mädchen in der Kirche hatte sie gefragt, warum sie kein Osterkleid anhatte, und Jessie hatte verkündet, weil sie in einen Haufen Pferdeäpfel gefallen wäre. Bloß, daß Jessie es nicht so ausgedrückt, sondern das schlimme Wort benutzt hatte, und einige der Jungen lachten grölend, und bald wußte jeder Kirchenbesucher, daß Roanna Davenport in einen Scheißhaufen gefallen war.
Großmutter hatte ihr wieder diesen mißbilligenden Blick zugeworfen, und Tante Glorias Mund verzog sich, als beiße sie soeben in eine Zitrone. Tante Janet hatte sie bloß angesehen und den Kopf geschüttelt. Aber Daddy fand es lustig und sagte, daß ein bißchen Pferdedreck gar nichts schaden könne. Außerdem bräuchte sein kleiner Spatz sowieso ein wenig Dünger, um zu wachsen.
Daddy. Der Knoten in ihrer Brust wurde so groß, daß sie kaum mehr Luft bekam. Daddy und Mama waren für immer fort, ebenso wie Tante Janet. Roanna hatte Tante Janet gemocht, auch wenn sie immer ein wenig traurig wirkte und man nie auf ihren Schoß durfte. Aber sie war viel netter als Tante Gloria gewesen.
Tante Janet war Jessies Mama. Roanna fragte sich, ob es Jessie wohl auch so weh tat wie ihr, ob sie auch so viel weinte, bis sich das Innere ihrer Augen wie Sandpapier anfühlte? Vielleicht. Aus Jessie wurde man einfach nicht schlau. Sie hielt jedenfalls ein schmutziges kleines Ding wie Roanna nicht ihrer Beachtung wert; das Cousinchen hatte sie das selbst mal sagen hören.
Während Roanna starr aus dem Fenster blickte, sah sie, wie Jessie und ihr Cousin Webb auftauchten, als ob sie sie mit ihren Gedanken herbeigerufen hätte. Sie schlenderten langsam über den Rasen zu einer riesigen alten Eiche und der hölzernen Gartenschaukel, die von einem ihrer mächtigen Äste hing. Jessie sieht wunderschön aus, dachte Roanna mit all der unkritischen Bewunderung einer Siebenjährigen. Sie war schlank und anmutig wie Cinderella auf dem Ball – mit ihrem eleganten schwarzen Nackenknoten und dem feinen Hals, der sich schwanengleich aus dem Kragen ihres dunkelblauen Kleids erhob. Die Kluft zwischen sieben und dreizehn klaffte unüberwindbar zwischen ihnen; in Roannas Augen war Jessie eine Erwachsene, ein Mitglied jener mysteriösen Gruppe von Menschen, die die Macht hatten, Befehle zu erteilen. So lagen die Dinge jedoch erst seit dem letzten Jahr, zuvor war Jessie immer als »großes Mädchen« bezeichnet worden, im Gegensatz zu Roanna, die das »kleine Mädchen« hieß. Jessie hatte bis dahin auch mit Puppen gespielt und gelegentlich sogar Verstecken. Das war allerdings vorbei. Jetzt rümpfte Jessie die Nase über jedes Spiel außer Monopoly und verbrachte eine Menge Zeit damit, ihr Haar herzurichten und Tante Janet um Schminksachen anzubetteln.
Webb hatte sich ebenfalls verändert. Roanna mochte ihn deshalb so gern, weil er immer bereit war, sich mit ihr herumzubalgen oder ihr den Schläger zu halten, damit sie den Softball treffen konnte. Webb liebte Pferde genauso wie sie und ließ sich gelegentlich dazu überreden, sie
Weitere Kostenlose Bücher