1061 - Die Macht der Rhein-Sirenen
Die Berge standen als mächtige Kulisse zu beiden Seiten des Stroms.
Sie warfen ihre Schatten in die unterschiedlich großen Ortschaften an den Ufern, in denen zu dieser Zeit nur wenige Lichter schimmerten. Der Himmel war bedeckt mit Wolken, die keinen Blick auf die Sterne freigaben, die den Mond verschwinden ließen, aber noch hoch über den Bergkuppen hinwegtrieben. Hinzu kam ein kalter April wind, der den beiden Männern immer wieder in die Gesichter blies und auf der Oberfläche des Wassers zusätzlich ein Wellenmuster hinterließ.
Den Männern machte es keinen Spaß, in der Nacht auf den Fluß hinauszufahren. Sie konnten nicht anders. Sie wollten endlich Klarheit gewinnen.
Beide waren ungefähr gleich alt, um die Fünfzig. Und beide litten unter den gleichen Problemen, denn sie hatten ihre Töchter verloren. Helmut Kluge seine Tochter Verena, Günter Heller seine Susanne. Von einer Stunde zur anderen waren die beiden jungen Frauen verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Einfach weg, ohne Abschiedsbrief und ohne sich zuvor seltsam verhalten zu haben. Sie hatten ihre Elternhäuser verlassen, und es war nichts mehr von ihnen zu hören und zu sehen gewesen.
Natürlich war die Polizei eingeschaltet worden. Man hatte den Fluß abgesucht und besonders auf die Uferregionen geachtet, doch niemand war dort angeschwemmt worden. Es gab keine Ertrunkenen zu beklagen. Es wurde auch kein Kleidungsstück gefunden, es war einfach nichts geschehen. Das hatte die Angehörigen der Verschwundenen fast in den Wahnsinn getrieben. Beide Mädchen stammten aus Bingen. Sie kannten sich. Sie waren Freundinnen gewesen, und beide waren zum gleichen Zeitpunkt verschwunden.
Dennoch lebten sie. Die Väter waren seit kurzem davon überzeugt, sonst wären sie nicht in der Nacht auf den Strom hinausgefahren.
Man hatte ihneneine Botschaft übermittelt. Etwas Geheimnisvolles hatte sie erreicht. Ein geflüsterter Anruf. Hastig gesprochene Worte, wie von einem Geist abgegeben.
»Wir leben… kommt zum Fluß … wir leben … fahrt auf den Strom hinaus … nur in der Nacht …«
Das Datum war hinzugefügt worden. Ansonsten keine Erklärung.
Helmut Kluge und Günter Heller hatten sich zusammengehockt und waren übereingekommen, keinem Menschen etwas zu sagen.
Auch nicht den ermittelnden Polizisten. Ebenfalls nicht dem Beamten, der noch immer im Ort und in der Nähe herumschnüffelte. Er hatte sie immer wieder verhört und gab einfach nicht auf. Allerdings wußten beide Männer nicht, welcher Organisation der Mann angehörte, der sich Harry Stahl nannte.
Allerdings hatten Kluge und Heller in Erfahrung bringen können, daß nicht nur ihre Töchter auf rätselhafte Art und Weise verschwunden waren, sondern auch andere.
Der Strom war nie ruhig. Ein gefährlicher Spielkamerad, der ihren Kahn auf und ab schaukeln ließ. Gerade im Bereich des Ortes Bingen war der Rhein besonders gefährlich, denn hier verengte sich das Flußbett. Hier erhielt die Strömung noch mehr Kraft. In diesem Bereich waren auch die Stromschnellen und Strudel am kräftigsten, die wesentlich größeren Booten zum Verhängnis werden konnten und auch wurden.
Das Wasser war grau, dunkel, und nur dort hell, wo die Wellen aufeinander zu rollten, in die Höhe spritzten oder die Strudel einen schaumigen Trichter hinterließen.
Hier wurden die Schiffe und schwimmenden Container von Lotsen geführt, um die gefährlichen Engen sicher passieren zu können.
Die Männer wußten, auf welches Risiko sie sich einließen. Sie taten es allein im Interesse ihrer Töchter, obwohl sich keiner von ihnen vorstellen konnte, wie die jungen Frauen mit ihnen Kontakt aufnehmen wollten. Das war ihnen nicht klar.
Es kam auf den Versuch an. Sie wollten sich nicht nachsagen lassen, untätig geblieben zu sein.
Helmut Kluge saß am Heck. Er bediente dort das Ruder. Sein Blick glitt ebenso zur Mitte des Stroms hin wie der seines Freundes, obwohl er von Günter nur den Rücken sah.
Das andere Ufer war zu sehen. Vereinzelte Lichter. Die Flanken der Berge, der dunkle Himmel darüber, die wenigen Lampen, deren Glanz wie der tiefliegender Sterne schimmerte.
Heller und Kluge wußten nicht, was sie noch glauben sollten. Sie gingen nach dem Prinzip Hoffnung vor, etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Solange die Leichen ihrer Töchter nicht gefunden waren, wollten sie einfach nicht daran glauben, daß die jungen Frauen tot waren. Deshalb klammerten sie sich an jeden Strohhalm. Beide waren auch davon
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