Daemonen in London
danach
würde der Alltag wieder einkehren und das neue Jahr genauso
weitergehen, wie das alte geendet hatte.
„Wie hat dir die Feier
gefallen?“, fragte Tilly.
„Ach,
ganz gut“, meinte Jeremy abwesend.
Wahrscheinlich
war er mit den Gedanken bei irgendeinem Geschäftsabschluss,
dachte Tilly. Jeremy plante, noch vor seinem dreißigsten
Geburtstag ein großes Tier in der Londoner City zu sein. Nun,
viel Zeit hat er dafür nicht mehr, dachte Tilly mit einer
gewissen Schadenfreude. Nächstes Jahr war es soweit. Doch sie
musste zugeben, dass er bereits jetzt ansehnlich weit gekommen war.
Über
Geldsorgen brauchte sie nicht zu klagen – eher schon über
seine ständige Abwesenheit. Aber man konnte nicht alles haben.
Und im Zweifelsfall war ihr eine Menge Geld schon lieber.
„Regina
hat ganz schön zugenommen, finde ich“, meinte sie und
ärgerte sich, als Jeremy auch jetzt nicht reagierte. Er hatte
dieser Tussi verdammt oft auf den dicken Hintern gestarrt, fand sie.
Dabei war sie selbst heute Abend ziemlich sexy gewesen, in ihren
neuen Schuhen und dem hautengen Kleid. Und Jeremy hatte es überhaupt
nicht bemerkt. Andere Männer dafür schon. Sie unterdrückte
ein selbstgefälliges Kichern.
„Findest
du nicht?“, hakte sie nach. Sie gingen gerade am Eingang zu
einem weitläufigen Parkgelände vorbei.
„Was?“,
schreckte Jeremy hoch. Offensichtlich hatte er nicht zugehört.
Mal wieder.
„Ich
habe über Reginas offensichtliche Gewichtsprobleme geredet“,
wiederholte Tilly und bemühte sich, nicht allzu giftig zu
klingen. Vergeblich, wie ihr sogar selbst auffiel.
Doch
Jeremy ignorierte ihr Geplapper noch immer. Stattdessen wurde er
langsamer, blieb schließlich ganz stehen und wandte sich ihr
zu.
„Was
meinst du“, sagte er, „Sollen wir die Abkürzung
durch den Park nehmen?“
Er
war der faulste Mensch, den sie kannte! Sie war diejenige mit den
wunden Füßen, aber er scheute jegliche überflüssige
Bewegung. Immer, nicht nur jetzt!
Dabei
könnte gerade ihm etwas Sport ganz und gar nicht schaden. Der
Schwimmring um seine Hüften war unübersehbar, da konnte er
morgens auf der Waage seinen Bauch einziehen soviel er wollte!
Aber
im Grunde hatte er recht, wenigstens heute Nacht. Auch sie wurde mit
jeder Minute müder und sehnte sich nach ihrem Bett. Und danach,
endlich diese mörderisch schmerzenden Schuhe loszuwerden.
Dummerweise
war das Parkgelände unbeleuchtet – und ganz schön
unheimlich. Andererseits: was sollte an einem Neujahrsmorgen mitten
in einer Millionenstadt schon groß passieren? In wenigen
Minuten würden sie den dunklen Park durchquert haben – und
dadurch doch eine gute halbe Stunde Lauferei einsparen.
Der
Gedanke an ihre wunden Füße und die verlockende Aussicht,
die Pumps deutlich eher in die Ecke schleudern zu können, gaben
den Ausschlag.
„In
Ordnung“, sagte sie daher, hakte sich noch etwas fester bei
Jeremy ein und zog ihn kurz entschlossen auf den finsteren Kiesweg -
ehe sie der Mut verließ und sie es sich womöglich doch
noch anders überlegte.
*
Keeva
McCullen schreckte hoch. Irgendein später Feiernder hatte
anscheinend noch einen Böller in seiner Tasche entdeckt, ihn
unten auf der Straße gezündet und sie dadurch geweckt.
Mit
offenen Augen blieb sie in ihrem Bett liegen, wartete, bis ihr
klopfendes Herz sich wieder beruhigte und dachte an den vergangenen
Abend.
Es
war so gewesen, wie es zu jedem Silvester in den letzten zehn Jahren
gewesen war: ihr Vater, Liam McCullen, hatte sich zwar um
Fröhlichkeit bemüht, war aber trotzdem nicht in der Lage
gewesen, die tiefe Trauer zu verbergen, die gerade an diesem Tag
immer besonders stark von ihm Besitz ergriff. Denn Silvester –
und Neujahr – waren für Keeva und ihren Vater nicht nur
wegen des Jahreswechsels ein besonderes Datum.
Zum
einen war der 1. Januar zugleich auch Keevas Geburtstag. Heute vor
achtzehn Jahren - um drei Uhr morgens, genau in dieser Minute, wie
Keeva mit einem schnellen Seitenblick auf den Wecker feststellte –
waren sie und ihr Zwillingsbruder Gabriel geboren worden.
Und
acht Jahre später, also heute vor zehn Jahren, waren ihr Bruder
Gabriel und ihre Mutter Rachel in einem Kampf gegen die Dämonenwelt
ums Leben gekommen.
Jegliche
Erinnerung an diesen Kampf war aus Keevas Gedächtnis getilgt,
obwohl sie damals dabei gewesen war. Die Jahre davor und danach waren
ihr lückenlos in Erinnerung – nur nicht diese eine Nacht.
Sie wusste nur, was man ihr erzählt hat: dass ihr Vater
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