Mirage: Roman (German Edition)
D ies ist der Tag, der die Welt verändert.
Es ist der 21. Scha’ban des Jahres 1422 nach der Hijra. Beziehungsweise laut dem internationalen Handelskalender: der 9. November 2001. Sonnenaufgang ist in Bagdad um 6 Uhr 25. Als die ersten Strahlen auf die Tigris-und-Euphrat-Zwillingstürme fallen, steht ein alter Mann im Hauptspeisesaal des Restaurants »Fenster zur Welt« und blickt hinaus auf die Stadt. Der morgendliche Pendlerverkehr ist bereits in vollem Gang, die Schnellstraßen aus Falluja, Samarra, Baquba und Kerbela sind eine einzige Blechlawine. Auf der anderen Seite des Tigris zieht der Basra-Express eine Schleife um das ehemalige Gelände der Weltausstellung und fährt kurzzeitig parallel zur Sadr-Stadt-Hochbahn, bevor beide Züge in den Tunnel zum unterirdischen Hauptbahnhof abtauchen. Auch auf dem Fluss herrscht reger Verkehr: Passagier- und Frachtschiffe, Wassertaxis, Rennboote der Rudermannschaft der Uni Bagdad, die Tragflügelfähre aus Kut. Während er auf all das hinabblickt, befällt den alten Mann ein Schwindel, der jedoch nichts mit Höhenangst zu tun hat. Es muss die Bewegung sein, sagt er sich, die rastlose Bewegung der Großstadt, die durch die Stoßzeit noch intensiviert wird.
Der alte Mann ist im Jemen aufgewachsen. Seine Familie besaß eine Bäckerei, und er und seine Brüder arbeiteten alle dort. Es war schwere Arbeit, mit langen Arbeitszeiten, aber fünfmal am Tag hörte jede Tätigkeit auf, Mitarbeiter wie Kunden verließen den Laden, um zur Moschee zu gehen, und es blieb lediglich ein Christ zurück, der die Öfen im Auge behielt. Und nicht nur die Gewerbebetriebe der Stadt machten dicht: Ein Beobachter aus der Vogelperspektive hätte gesehen, dass dann auch die Straßen wie ausgestorben waren, selbst der Fernverkehr stoppte zu den Gebetszeiten.
Bagdad, die Stadt der Zukunft, stoppt hingegen für nichts und niemanden. Wenn der alte Mann hier zum Morgengebet die Küche verlässt, bleiben nicht nur Christen an ihrem Arbeitsplatz: Der Moscheenbesuch schwankt hier stark, als müsste man sich nach den Forderungen der Welt und nicht nach denen Gottes richten. Hier fließt der Verkehr rund um die Uhr und lässt sich nur von Unfällen und Staus aufhalten. Kein Wunder, dass ihn der Anblick verwirrt und dieses Flattern in seiner Brust und dem inneren Ohr hervorruft, das ihm sagt: Das ist nicht der Ort, für den du geschaffen wurdest . Denn ehrlich, was sonst könnte es bedeuten?
Jemand ruft ihn aus der Küche. Höchste Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Es muss noch ein Schwung Gebäckteilchen raus, bevor um sieben der Frühstücksdienst beginnt, und anschließend fangen die Vorbereitungen für das Mittagessen an.
Ein Hubschrauber knattert an den Fenstern vorüber. Die Sonne steigt allmählich höher am von Kondensstreifen durchzogenen Himmel. Auch die Himmelssphären sind in Bewegung.
7 Uhr 15. In einem nur wenige Blocks von den Zwillingstürmen entfernten Sendestudio tritt die Bürgermeisterin von Bagdad, Anmar al-Maysani, in der Morgen-Talkshow ›Jazira und Freunde‹ auf. Das heutige Thema ist die in die Höhe schießende Mordrate: Seit Januar sind in Bagdad 463 Menschen getötet worden, und man rechnet damit, dass die Gesamtzahl bis Ende des Jahres die Fünfhundert überschreiten wird. Es ist die schlimmste Welle der Gewalt, die die Stadt seit den Bandenkriegen der frühen Neunzigerjahre erlebt hat, sodass die Bürgermeisterin einige Erklärungen schuldig ist.
Nachdem sie als eine »bekannte Feministin« vorgestellt worden ist, hat Anmar al-Maysani sich darauf gefasst gemacht, die ihr zustehende Redezeit mit Diskussionen darüber zu verbringen, ob man bestimmte Berufe nicht vielleicht doch besser Männern überlassen sollte. Darum ist sie überrascht, dass die erste Frage des Talkmasters ein völlig anderes Thema betrifft.
»Frau Bürgermeisterin, viele sind davon überzeugt, die steigende Gesetzlosigkeit, die wir gegenwärtig erleben, sei die unausweichliche Folge der Säkularisierung unserer Gesellschaft. Was wir bräuchten, sei ein neues Erwachen, eine Abkehr von der Moderne und eine Rückbesinnung auf traditionelle, religiöse Werte. Was sagen Sie dazu?«
»Nun«, erwidert die Bürgermeisterin, »als Erstes könnte ich sagen, dass Gott groß und nichts so wichtig ist wie das Ringen um ein gerechtes Leben. Wenn unsere Bürger dazu inspiriert werden, sich aufs Neue diesem Streben zu widmen, so ist es das Beste, was aus dieser unseligen Situation resultieren könnte. Allerdings
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