Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
in ihrer Zukunft.
Es war jedoch ganz anders gekommen, angefangen damit, dass sie die Einfahrt nach
Sandfern verschlafen hatte. Der Jetlag hatte ihr arg zugesetzt, genau wie die
Klimaumstellung: Jetzt, Anfang Juli, war es in VinesGrey kühl, während der Sommer in Sandfern gerade so richtig durchstartete. Dann war es ihr gerade noch rechtzeitig gelungen, mit ihrem Koffer- und Taschenwust auszusteigen, bevor der Zug nach kurzem Halt wieder ausfuhr. Dabei hatte sie zu allem Überfluss auch noch jede Menge böser Blicke von ebenfalls schwer beladenen Touristen geerntet, die von Sandfern aus mit dem Bus weiter in die
Ferienorte entlang der Küste wollten.
»Entschuldigung, ich komme eben erst aus Australien und stehe noch etwas neben mir.
Die Zeitverschiebung benebelt einem das Gehirn.«
»Billige Ausrede«, hatte eine kompakte Dame genuscheltund Ella beim Vorbeidrängeln die Spitze ihres Sonnenschirmsin die Rippen gebohrt.
Das fängt ja großartig an, hatte Ella gedacht, während sie sich wie eine Schwerverwundete auf den Bahnsteig schleppte. Wo sie nun eine Dreiviertelstunde später immer noch stand.
Nur widerwillig gestand sie sich ein, dass ihr Bruder – nein, Halbbruder, wie er sich korrekterweise immer zu bezeichnen pflegte – samt der Ballontraube nicht mehr auftauchen würde. Dass seine Frau Liv es im Alleingang hierherschaffen würde, um sie in Empfang zu nehmen, hätte sich Ella nicht einmal in ihren kühnsten Träumen auszumalen gewagt.
Mittlerweile hatte sie schon ein paarmal versucht, Sören über das Handy zu erreichen, aber da ging bloß die Mailbox dran. Bestimmt war ihr irgendein Zahlendreher in die
Ankunftszeiten, die sie Sören geschickt hatte, hineingeraten. Solche Sachen waren nicht gerade ihre große Stärke. Ein Blick auf ihr Handy könnte ihr bestätigen, dass ihr ein Fehler unterlaufen war. Aber irgendwie war ihr nicht danach, sich zu vergewissern. Am Ende hatte sie doch die richtige Zeit angegeben, und dann müsste sie zwangsläufig einräumen, dass ihr großer Bruder, nein, Halbbruder, sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie vom Bahnhof
abzuholen. Obwohl er es versprochen hatte. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass es ihm vielleicht nicht wichtig war, sie nach vier Jahren – so lange war sein letzter Besuch mit seiner Familie in Australien bereits her – endlich wiederzusehen. Dass es ihm vielleicht sogar gleichgültig war, wenn sie nun in derselben Stadt lebte.
Entschlossen kramte Ella ihre Habseligkeiten zusammen. Von solchen Grübeleien würde
sie sich nicht runterziehen lassen. Jetlag hin, abwesender Sören her – heute war ihr erster Tag in Sandfern seit knapp zehn Jahren, der Stadt, die sie nie wirklich verlassen hatte. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel wie auf einer Urlaubskarte, es roch nach Meer, und wenn der Zauber sich nicht von allein einstellen wollte, dann würde sie ihm eben nachhelfen.
Während ihre Arme wegen ihres elend schweren Gepäcks mindestens drei Zentimeter länger wurden, feuerte sie sich unentwegt selbst an: Alles wird gut, alles wird wunderbar, nur nicht den Kopf hängen lassen. Sonst kannst du gleich wieder umdrehen und in die sichere
Umarmung von Mama und Papa flüchten.
Ella spürte einen kurzen Schmerz, als das Bild ihrer Eltern aufflackerte, die sie nur ungern hatten ziehen lassen. »Selbstverständlich bist du mit einundzwanzig Jahren alt genug, um dich ins Leben zu stürzen«, hatte ihre Mutter Selma ohne Weiteres zugegeben, während sie den Düngemittelkatalog für Weinreben in ihren Händen zu Altpapier verarbeitete.
Ein
sicheres Zeichen dafür, dass Ellas Pläne zwar selbstverständlich waren, Selma jedoch beunruhigten. »Aber warum denn nicht in Sydney? Das wäre nur ein paar Autostunden von uns entfernt.«
Darauf eine Antwort zu geben, war Ella schwergefallen. Sie mochte Australien, außerdem liebte sie ihre Eltern undfühlte sich sehr wohl bei ihnen in VinesGrey mit seinen Weinbergen.
Einen Tick zu wohl eben. Wer so umsorgt und geliebtwurde, lief Gefahr, niemals das
gemütliche Nest gegen denHimmel bei Wind und Wetter einzutauschen. Genau das war es
jedoch, wonach Ella sich sehnte: ein Leben im freien Fall, in dem sie selbst die Reißleine zog. Wobei die Kleinstadt Sandfern nicht gerade der Ort am Puls der Zeit war. Nur gab es neben ihrem Abnabelungsbedürfnis noch einen ganz anderen Grund für diesen rigiden
Ortswechsel: Seit sie Sandferndas letzte Mal gesehen hatte, schwebt es ihr ständig
vorAugen, als wäre es
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