Daisy Sisters
spüren den Atem der anderen. Kann man enger zusammen sein?
Gegen zwei Uhr morgens fragt Vivi, ob Elna noch unschuldig sei. Sie kichert nicht einmal, stellt die Frage genau so, wie sie gemeint ist.
Elna weiß nicht recht, was sie antworten soll. Sie hat sich niemals vorstellen können, dass ihr so eine Frage gestellt würde. Aber ist sie es nun? Ja, natürlich. Es gab ja kaum Zeit, um mit Jungen auszugehen. Und Vater Rune hat über sie gewacht,seine warnenden Augen sind ihr gefolgt, wohin sie auch ging. Er war es auch, der sie aufgeklärt hat, und nicht Mutter, mit hilflosen, unsortierten Informationen. Verstanden hat sie eigentlich nur, dass Jungs zu meiden sind. Denn schwanger zu werden wäre der Tod, da könnte man ja gleich den Kopf unters Beil legen. Einmal wurde sie jedoch von einem Tölpel aus Hofors überrumpelt, und der schaffte es, sie zu küssen. Birger, fand sie, war eigentlich nett, er lachte oft und laut und war immer sehr sauber. Bis er eines Samstagabends die Maske abwarf und nur noch ein lüsterner junger Mann war, der ihren Widerstand zu brechen versuchte. Er schaffte es aber nicht, zum Glück war Nisse gleich da, als diese nervösen und eifrigen Teenagerfinger ihr zusetzten. Sie hat ja selbst, lüstern und verschämt zugleich, gründlich versucht, die Gefühle in ihrem Unterleib zu erforschen, beim bleichen Schein der Straßenlaterne, der über die Bettdecke strahlte. Und Gefühle hat sie entdeckt, erregende, erschreckende, lockende.
Mit niemandem hat sie je so gesprochen wie in dieser Nacht mit Vivi. Sie errötet und kichert, erwartet jeden Augenblick, dass sich die Tür des Güterwaggons öffnet und Vater Rune dort steht und sie anbrüllt, worüber, zur Hölle, sie sich da unterhalten. Aber natürlich kommt er nicht, und sie flüstern und haben einen Schluckauf vor Lachen. Im Morgengrauen sind sie in der Lage, über Gott und die Welt zu reden, auch über Vorurteile, verbotene Gedanken, gefährliche Gedanken.
»Hitler«, sagt Vivi. »Stell dir vor, er wäre hier! Wenn er hier läge, zwischen uns?«
Sie bedenken ihn mit den schlimmsten Schimpfnamen, die man sich vorstellen kann. Kreuzotter, ein verrotteter Kadaver, eine braune Ratte mit Pestflecken – und Flöhen im Schwanz …
Es dämmert, als sie aus dem Güterwaggon klettern, ihre Fahrräder nehmen und sich auf den Weg machen. Es regnet nicht mehr, aber die Wolken hängen tief, es ist rau, und sie strampeln sich warm an den ersten Hängen. Draußen auf der Landstraße beginnen sie zu singen, es dauert einige Kilometer, bis sie den Namen Daisy Sisters gefunden haben. Sie radeln nebeneinander, mit der Sonne im Rücken.
Gott, denkt Elna. Wenn es dich gibt, wenn es dich gibt …
Sie rasten, kochen Kaffee (es ist Vivi, die Kaffee bei sich hat, übermütig erzählt sie, dass sie ihn stibitzt hat, als die Hauswirtschafterin im Hotel ihr in der großen Vorratskammer den Rücken zuwandte), teilen ihren Aufschnitt, erleben ihren ersten gemeinsamen Morgen. Plötzlich beginnt Vivi auf der Wiese, auf der sie sich niedergelassen haben, Purzelbäume zu schlagen. »In Skåne gibt es nur Treppen«, schreit sie. »Wenn man hier fällt, schlägt man sich nicht die Zähne aus.«
So purzelt sie kopfüber durchs Gras und beginnt mit Trockenschwimmen. Als sie das Gesicht hebt, ist es braun und verschmiert, sie ist mitten in einem Kuhfladen gelandet. Aber sie lacht nur und wäscht sich in einem Graben.
Sie sind auf dem Weg mitten hinein in den Sommer.
Nach einigen Tagen kommen sie nicht weiter. Nördlich von Gröveldalsvallen, wo sie im Nordwesten schon das Långfjäll ahnen, werden sie an einer Brücke über den Grövla gestoppt. Der Wachtposten ist fett und verschwitzt, das Gewehr hängt wie ein Joch über seiner Schulter. Aber obwohl er aussieht wie Sigurd Wallén, ein unglücklicher Sigurd Wallén, spüren sie den Ernst. Auf der anderen Seite der unsichtbaren Grenze ist Krieg. Sie dürfen noch bis Lövåsen fahren, aber von dort sind es bestimmt noch fünfzehn Kilometer bis zur Grenze. Sie radeln weiter, nur singen mögen sie nicht mehr.
Eine verlassene Scheune wird ihr Zelt, ein Gebirgsbachihr See. Auf einem Hof können sie Lebensmittel kaufen. In den warmen Sommertagen ist alles eigentümlich still, die Menschen auf den verstreuten Bauernhöfen verrichten ihre Arbeit, auf den Landstraßen kommen vereinzelte schwarze Autos in einer Staubwolke vorbei. Im Übrigen herrscht Stille. Vielleicht ist das ebenso das Gesicht des Krieges wie Kanonengrollen und
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