Ich, Heinrich VIII.
Prolog
Will Somers an Catherine Carey Knollys
Kent, England, den 10. April 1557
Meine liebe Catherine:
Ich sterbe. Besser gesagt, ich bin ein Sterbender – es gibt da einen kleinen (wiewohl nicht tröstlichen) Unterschied. Nämlich diesen: Wer stirbt, kann keine Briefe mehr schreiben, derweil ein Sterbender es kann und manchmal auch tut. Wie dieser Brief beweist. Liebe Catherine, verschont mich mit Beteuerungen des Gegenteils. Ihr habt mich seit vielen Jahren nicht gesehen (wie viele sind es, seit Ihr nach Basel ins Exil gingt?); Ihr würdet mich heute nicht wiedererkennen. Ich bin nicht sicher, dass ich selbst mich erkenne, wann immer ich so schlecht beraten bin, tatsächlich in einen Spiegel zu schauen – was zeigt, dass die Eitelkeit zum Mindesten so lange lebt wie wir. Sie ist die erste Eigenschaft, die wir haben, und die letzte, die schließlich dahingeht. Und ich, der ich meinen Unterhalt bei Hofe damit verdient habe, die Eitelkeit anderer zu verspotten – ich schaue in den Spiegel, wie alle anderen auch. Und ich sehe einen fremden alten Mann, der entschieden unappetitlich aussieht.
Aber ich war schon fünfundzwanzig, als der alte König Harry (damals selber ein junger Mann) mich in seinen Haushalt aufnahm. Er ist nun seit zehn Jahren tot, und das ist der Grund, weshalb ich Euch schreibe. Lasst uns unverzüglich zur Sache kommen. Ihr wisst, ich war nie sentimental. (Ich glaube, dies schätzte Harry an mir mehr als alles andere, so unverbesserlich sentimental, wie er selber war.) Ich habe ein kleines Vermächtnis für Euch. Es ist von Eurem Vater. Ich kannte ihn ziemlich gut, besser noch als Ihr selbst. Er war ein prachtvoller Mann, der heute schmerzlich vermisst wird, selbst von seinen Feinden, möchte ich meinen.
Ich führe ein stilles Leben auf dem Lande, in Kent. Das ist weit genug weg von London, um einigen Schutz vor falschen Bezichtigungen zu bieten, aber nicht so weit, dass man nicht hören könnte, wie andere unter falsche Anklage gestellt werden. In Smithfield wird wieder verbrannt; wie Ihr höchstwahrscheinlich selbst vernommen habt, hat man Cranmer und Ridley und Latimer geröstet. Wie sehr muss Maria Cranmer gehasst haben in all den Jahren! Bedenke nur, wie oft sie bei irgendeiner religiösen Feier neben ihm stehen musste … bei Edwards Taufe etwa, wo sie sogar Geschenke bringen musste! Der liebe Cranmer – Heinrichs willfähriger Kirchenmann. Wenn es jemals einen Menschen gab, der als Kandidat für das Märtyrertum nicht infrage kam, dann war er es. Ich habe immer angenommen, der Mann habe überhaupt kein Gewissen. Jetzt sehe ich, dass dies ein Irrtum war. Hast du gehört, wie er zuerst seinen Protestantismus widerrief, auf eine typisch cranmerianische Weise, und dann – oh, wie wunderbar! – seinen Widerruf? Es hätte spaßig sein können, wäre es nicht so tödlich.
Aber freilich, Ihr und die anderen Eurer … Überzeugung … spürten das schon früh und waren klug genug, England zu verlassen. Ich will Euch eine Frage stellen, und ich weiß sehr wohl, dass Ihr sie nicht beantworten werdet – nicht auf Papier, wenn Ihr noch hofft, irgendwann wieder hierher zurückzukehren. Wie protestantisch seid Ihr wirklich? Ihr wisst, der alte König betrachtete sich überhaupt nie als Protestanten, sondern als Katholiken, der sich mit dem Papst zerstritten hatte und sich nun weigerte, ihn anzuerkennen. Ein hübscher Kunstgriff, aber Harry kam eben manchmal auf wunderliche Einfälle. Sein Sohn Edward dann, dieser frömmelnde kleine Pinsel, der war Protestant. Aber keiner von der wilden Sorte, dieser Anabaptisten-Abart. Gehört Ihr zu dieser Sorte? Wenn ja, wird es für Euch in England keinen Platz geben. Nicht einmal Elisabeth wird Euch willkommen heißen, sollte sie jemals Königin werden. Das solltet Ihr wissen und Eure Hoffnung nicht an Dinge heften, die kaum jemals eintreffen werden. Eines Tages dürft Ihr heimkehren. Aber nicht, wenn Ihr Anabaptistin oder etwas Derartiges geworden seid.
England wird nie wieder katholisch sein. Dafür hat Königin Maria gesorgt, mit ihren Verfolgungen um des »Wahren Glaubens« willen und mit ihrer Spanien-Besessenheit. Harry hat niemanden je für etwas anderes bestraft als für Illoyalität gegen den König. Solange man den Gefolgschaftseid unterschrieb, konnte man glauben, was man wollte –
vorausgesetzt, man benahm sich dabei wie ein Gentleman und rannte nicht in schwitziger Inbrunst umher, in diesem wie in jenem Fall. Thomas More wurde nicht
Weitere Kostenlose Bücher