Dalamay (Mein Leben ging einen anderen Weg)
seiner Kindheit. Natürlich nur, wenn er sich sicher wähnte, dass meine Mutter das Haus verlassen hatte. Ich glaube, ich tat ihm ein wenig leid. Wenn ich bei ihm meine Aufgaben schnell und gut erledigt hatte, durfte ich ab und zu auch in meinen Märchenbüchern lesen. Da gab es dann doch auch einen Menschen, der es gut mit mir meinte. Während ich meine Aufgaben lernte oder las, hielt Herr Brahmann oft ein kleines Nickerchen. Dabei rutschte ihm immer seine Nickelbrille ganz runter auf die Nasenspitze und kurz bevor sie Gefahr lief, ihm ganz von der Nase zu rutschen, wachte er völlig überrascht auf. Und wenn er mich nicht gerade unterrichtete oder schlief, dann stahl er sich zur Mademoiselle. Wenn er dann von seinem Stelldichein in das Schulzimmer zurückkam, hatte er immer einen ganz verzückten Gesichtsausdruck und meistens war irgendein Knopf an seiner Kleidung offen. Nur einmal bin ich ihm hinterhergeschlichen. Was ich sah und hörte, war nichts Neues für mich. Seufzen und Stöhnen, diese komischen Bewegungen. Es war nur ein Unterschied zu sehen und das war der, dass die Mademoiselle und Herr Brahmann fast ganz angezogen waren. Es war von daher uninteressant für mich. Ich wusste Bescheid und ich kannte es nicht anders.
Mademoiselle Antoinette, Lady Hillary und Herr Brahmann waren die Menschen, die mich von Anfang bis Ende unterrichteten. Die anderen Privatlehrer, für Geschichte und Tanz, für Religion und das Führen eines Haushalts, wechselten oft. Sie waren nie lange bei uns. Ich kann mich zumeist nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern. Nur an Marie kann ich mich erinnern. Sie war ein junges, wunderhübsches Mädchen von achtzehn Jahren aus einem der vornehmsten Häuser im ganzen Saarland. Sie gab mir Tanzstunden, als ich ungefähr zwölf war. Aber nicht sehr lange, dann kam sie nicht mehr. In der Küche munkelten die Dienstboten etwas von einem Skandal. Einige weinten, weil sie Angst hatten, ihre Arbeit in unserem Haus zu verlieren. Ich verstand das alles nicht. Fragen konnte ich niemanden. Meinen Vater und meine Mutter sah ich zu diesem Zeitpunkt noch seltener als zuvor. Wir schrieben mittlerweile das Jahr 1852.
Es war an einem Samstagnachmittag, als ich erfuhr, was geschehen war. Sonja hatte keine Zeit für mich. Überhaupt hatte niemand mir eine Aufgabe oder eine Arbeit zugeteilt. Das war sehr ungewöhnlich in meinem doch so durchgeplanten Leben. Ich wusste, dass meine Eltern, wenn auch getrennt, beide das Haus verlassen hatten und nicht vor dem späten Abend zurückerwartet wurden. Alle Dienstboten gingen ihrer Arbeit nach, etwas gemächlicher, daran merkte man sofort, dass die Hausherrin und der Hausherr nicht anwesend waren. So ging ich durch unser großes Haus, betrat Räume, in denen ich sonst nichts zu suchen hatte, und gelangte in das Zimmer meines Vaters, dass bei uns immer als das Herrenzimmer bezeichnet wurde. Ich durchquerte das Zimmer und schaute mir die Gesichter auf den an den Wänden hängenden Gemälden an. Ich kannte kein einziges Gesicht. Auf den dicken flauschigen Teppichen gelangte ich zum Schreibtisch meines Vaters. Dieser war riesig und obenauf vollgepackt mit Zeitungen und Briefen. Ich zog an den Beschlägen, die an den Schubladen angebracht waren. Alle waren sie verschlossen, bis auf eine. Ich zog sie auf und ganz zuoberst lag ein handgeschriebener Brief samt Umschlag, adressiert an meinen Vater. Das Briefpapier war dick und geriffelt. Eine schwungvolle, doch gut leserliche Schrift schlug mir entgegen. Ich zog den Brief aus der Schublade, lauschte kurz, ob ich Schritte hören konnte, aber es war völlig still. So setzte ich mich auf den dicken Teppichboden neben den Schreibtisch, betrachtete zuerst das mir unbekannte Siegel, das auf der letzten Seite des Briefes angebracht war und dann begann ich, den Brief zu lesen. Sehr schnell verstand ich, dass dieser Brief von einem männlichen Verwandten Maries an meinen Vater geschickt worden war. Ich erschrak ob des Inhalts dieses Briefes. Wortwörtlich kann ich mich wahrlich nicht mehr an alles erinnern, aber daran, dass mein Vater etwas sehr Schlimmes getan hatte. Und auch viele Jahre später, wenn ich an dieses Geschehnis zurückdachte, fragte ich mich, was für ein Mensch mein Vater war. Sich etwas zu nehmen, wenn man es bekommen kann, ist eine Sache, aber sich etwas mit Gewalt zu nehmen, was man freiwillig nicht bekommen hätte, ist eine ganz andere. Der Verfasser dieses Briefes drohte meinem Vater, ihn zu
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