Insel der Versuchung
PROLOG
Insel Kyrene, August 1813
Die Ruinen wirkten im Mondlicht wie verzaubert. Das sich kräuselnde Wasser der Teiche, die von einer heißen Quelle gespeist wurden, glitzerte silbrig inmitten der Schatten der Nacht. Gluckernd ergoss es sich über die in den Granit gehauenen Stufen, Überreste eines antiken römischen Bades. Trotzdem vermochte die zauberhafte Szenerie Caro Evers nicht zu beruhigen, wie es sonst der Fall war. Ihre rastlose Spannung stieg nur noch, während sie langsam näher ritt.
Am Fuß des ersten steinernen Beckens ließ Caro sich von dem Rücken ihrer alten Stute gleiten. Jenseits des östlichen Randes der Klippe erstreckte sich schimmernd das Mittelmeer. Ruhig und heiter lag es unter der strahlend hellen Scheibe des Mondes. Das hier war ein außergewöhnlicher Ort, selbst auf einer Insel, die für ihre Schönheit berühmt war. Doch heute Nacht bildete die heitere Ruhe einen starken Kontrast zu Caras innerer Aufgewühltheit.
Sie war so nervös wie ein Mädchen, das sich zu einem heimlichen Stelldichein mit seinem Liebsten verabredet hatte.
Was lächerlich war. Der Major war nicht ihr Geliebter, gleichgültig, welche närrischen Fantasien ihr Verstand heraufbeschwor. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er kommen würde.
Zerstreut pflückte Cara eine anmutige weiße Orchidee. Ihr Pferd rastete zwischen Gräsern und Famen, die in den Felsspalten wuchsen, während sie zum Wasser ging. Eine frische salzige Brise, in die sich schwach der Duft des Geißblattes, das über die uralten Steinen wucherte, und der Geruch der Tannen aus den bewaldeten Berghängen Kyrenes mischte, ließ ihre Röcke flattern. Langsam stieg sie die in den Felsen gehauenen Stufen empor. Der Stein unter ihren bloßen Füßen war von der Sommersonne noch warm, obwohl es längst Nacht geworden war.
Als sie unter einem steinernen Bogen hindurchschritt, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ein Mann stand über ihr auf der Brüstungsmauer und schaute auf die weite, mondbeschienene See hinaus.
Major Maxwell Leighton.
Sie waren sich erst vor drei Tagen begegnet, aber sie erkannte ihn sofort. Nur wenige Inselbewohner besaßen seine Körpergröße, so breite, kräftige Schultern und eine gebieterische Haltung wie er. Und niemand außer ihm konnte ihren Puls mit einem einzigen Blick aus seinen faszinierend blauen Augen zum Rasen bringen.
Seit der Ankunft des Majors hatte sie fast die ganze Zeit mit ihm verbracht, verstrickt in einen verzweifelten Kampf um das Leben eines Todkranken.
Du bist heute Nacht gekommen, dachte Caro erleichtert. Offensichtlich wollte er ein Bad nehmen. Seiner Stiefel und der kurzen blauen Jacke seiner Husarenuniform hatte er sich bereits entledigt, jetzt trug er nur noch Hosen und ein weißes Hemd.
Als er über seine Schulter zu ihr blickte, wurde sie sich plötzlich ihrer eigenen unordentlichen Aufmachung bewusst: Die Röcke ihres ältesten Gewandes schwangen ihr um die nackten Beine, ihr lockiges braunes Haar war nicht aufgesteckt und fiel noch ungebärdiger als sonst über ihren Rücken. Sie versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen.
„Stört Sie meine Anwesenheit an Ihrem Zufluchtsort wirklich nicht?“ fragte er.
Dessen bin ich mir nicht sicher.
Oft kam sie zu den römischen Ruinen, um zu baden, gewöhnlich nach einer harten Fechtrunde, wenn sie sich körperlich verausgabt hatte und alle Muskeln schmerzten. Selten nur erlaubte sie es jemandem, ihre Einsamkeit hier zu stören. Aber nach den Anstrengungen der letzten Tage brauchte der Major den Frieden und die Schönheit der Ruinen. Die besänftigende Wirkung des seidenweichen Wassers würde ihm ebenso gut tun wie ihr.
„Nein“, erwiderte sie offen. „Schließlich habe ich Sie gebeten zu kommen.“
Sie kletterte zu ihm hoch und stellte sich auf der halb verfallenen Mauer neben ihn. Allein seine Nähe ließ ihr Herz schneller schlagen.
Seltsam, wie ihr Körper auf ihn reagierte. Nie zuvor hatte sie eine so urtümliche Reaktion auf einen Mann verspürt. Die Insel Kyrene, hieß es, übe eine rätselhaft verführerische Wirkung auf Menschen aus, aber bis jetzt hatte Caro geglaubt, für diesen Zauber unempfänglich zu sein. Sicher, mit seinen dunkelblauen Augen, dem schmal geschnittenen Gesicht und dem rabenschwarzen Haar war Maxwell Leighton einer der anziehendsten Männer, die sie je getroffen hatte. Aber auch vor ihm war sie beeindruckenden Exemplaren seines Geschlechts begegnet, von denen Kyrene genug besaß.
Doch nie hatte sich ihre
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