Damaskus im Herzen.. - und Deutschland im Blick
jammerte wie immer, dass keiner Bücher kaufe. Das war der geeignete Augenblick. Er solle einen Buchverleih aufmachen! Und ich schenkte ihm ein dickes Heft, das mein Vater als Werbung einer pharmazeutischen Firma erhalten hatte: »In dieses Heft trägst du Name und Adresse der Kinder ein, in die zweite Spalte den Romantitel, in die dritte das Datum und in die vierte das hinterlegte Pfand.«
Die Romane kosteten zwei bis drei Lira, über die kaum ein Jugendlicher verfügte, aber spannende Bücher oder lustige Zeitschriften für fünf oder zehn Piaster zu lesen war für viele attraktiv. Die Idee schlug ein, und plötzlich wurden die Lausebengel zu ordentlichen Jugendlichen, die die geliehenen Romane brav und unbeschädigt zurückbrachten. Ismail beäugte streng die Bücher. Er verlor jedoch, bis er den Ladendrei Jahre später schloss, kein einziges Buch. Keiner wollte sein Pfand (eine Lira, eine Armbanduhr, ein goldener Ring oder ein goldenes Kreuz etc.) wegen eines bereits gelesenen Buches verlieren. Man zahlte fünf bis zehn Piaster und bekam das Pfand zurück. Bald bestand die Kundschaft des Händlers aus hundert Jugendlichen, Mädchen und Jungen, die ihm mehr Geld einbrachten, als er je durch den Verkauf eingenommen hatte. Damit war die erste öffentliche Leihbibliothek in meinem Viertel gegründet. Drei Jahre später entdeckte ich bei meiner Rückkehr aus den Ferien, die wir in unserem Bergdorf Malula verbrachten, dass der Laden geschlossen war. Josef erklärte mir mit leiser Stimme, Ismail sei umgebracht worden, weil er zu viel wusste. Er selbst habe auch von seinem nahen Ende gewusst und hätte die Kinder aufgesucht, die Bücher eingesammelt und ihnen das Pfand zurückgegeben. Das war Unsinn. Ismail starb an Krebs. Aber durch Ismails Verschwinden behielt ich Viktor Hugos Les Miserables . Ich hatte das dicke Buch mit in die Ferien genommen und hatte inzwischen als Einziger kein Pfand zurücklegen müssen.
Bei Ismail habe ich zum ersten Mal die arabischen Autoren gelesen. Mir kamen die alten Klassiker viel interessanter vor als die modernen Autoren, obwohl die Schule jede Lust an ihnen systematisch abtötete. Warum? Die Antwort darauf brauchte Jahre. Damals schon empfand ich eine eigenartige Langeweile, wenn ich die modernen arabischen Romane las, die von Tränen und Moral nur so trieften. Genauso wenig mochte ich die arabischen Filme. Ich fand sie unerträglich. Und wenn Farid al Atrasch mit seinem weichlichen, ausdruckslosen Gesicht und seinen öligen Haaren den an der Liebe erkrankten Helden dermaßen schlecht mimte, hätte ich vor Wut platzen können. Heute finde ich die Filme noch unerträglicher. Per Satellit erwischen sie mich immer wieder beimeiner Suche nach arabischen Sendern, aber nach drei Minuten befreie ich mich mit der Fernbedienung.
Mit sechzehn oder siebzehn trat ich der illegalen KP Syriens bei. Die KP ermunterte ihre Mitglieder zu einem eindimensionalen Lesen. Werke der Philosophie und Ökonomie sowie andere miserabel übersetzte Texte sollte man lesen. Vor allem Berichte über die Errungenschaften der sowjetischen Landwirtschaft. Schöne Literatur war nicht hoch angesehen. Sie galt als bürgerlich-dekadente Unterhaltung. Trotzdem verdanke ich der KP die Bekanntschaft mit vielen russischen Autoren, von Tolstoi über Tschechow bis Gorki. Aber auch hier musste ich Berge von literarischem Schrott lesen, in denen die Arbeiter schöne, fast geschlechtslose Männer und die Herrscher prinzipiell hässlich waren. Nie erfuhren wir von den harten Auseinandersetzungen, die Gorki mit den Bolschewiken gehabt hat, nie von Tolstois Haltung gegenüber den Sozialisten und auch nie von den Qualen, die Satiriker und andere Oppositionelle in der SU erlitten haben. Erst im deutschen Exil sollte ich das alles und noch mehr erfahren. Andererseits bekam ich über die KP Zugang zu Büchern über Ästhetik, politisches Bewusstsein und die Rolle der Literatur im Widerstand gegen die Kolonialisten und die Nazis. Aber ich erinnere mich nicht an eine einzige Diskussion in der syrischen KP über Literatur. Man fällte in der Zelle dauernd Urteile, die ich heute samt und sonders für verwerflich halte. Der ist kleinbürgerlich, der ist reaktionär und der ist ein Genosse. Es waren eher sippenhafte Urteile und keine Literaturkritik.
Aber auch international engagierte Autoren habe ich in jenen Jahren über die Privatbibliotheken meiner Genossen kennen gelernt: Bert Brecht, Federico García Lorca, Pablo Neruda, Nazim Hikmet
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