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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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meinen Augen kam er gleich nach ihm: Für mich war er ein heiliger Mann, ein Geistlicher, der Chef, der Oberrabbiner. Meine Eltern traten seiner Gemeinde bei, als ich noch ein Kleinkind war. Während seiner Predigten saß ich auf dem Schoß meiner Mutter.
    Doch sobald ich verstehen konnte, wer er war – ein Mann Gottes –, lief ich vor ihm davon. Sobald ich ihn im Flur sichtete, rannte ich weg. Ich flüchtete sogar noch als Teenager vor ihm, sobald ich ihn kommen sah. Er war über eins achtzig groß, und ich fühlte mich klein in seiner Nähe. Wenn er mich durch seine schwarz gerahmte Brille ansah, kam es mir vor, als könne er all meine Sünden und Fehler erkennen.
    Deshalb lief ich vor ihm weg.
    Und ich rannte, bis er mich nicht mehr sehen konnte.
    Daran dachte ich, als ich im Frühling 2000 eines Morgens nach einem Gewitter zu ihm fuhr. Einige Wochen zuvor hatte der damals zweiundachtzigjährige Albert Lewis mich nach einem Vortrag von mir im Flur angesprochen und mir diese eigenartige Frage gestellt.
    »Würden Sie meine Trauerrede halten?«
    Die Frage brachte mich ziemlich aus der Fassung. Um so etwas war ich noch nie gebeten worden, von niemandem – geschweige denn von einem hohen Geistlichen. Wir waren umgeben von Menschen, aber er lächelte, als hätte er mir eine ganz alltägliche Frage gestellt. Schließlich stammelte ich, dass ich mir das in Ruhe überlegen müsste.
    Ein paar Tage später rief ich ihn an.
    Ich würde seinem Wunsch nachkommen, sagte ich. Ich würde bei seinem Begräbnis sprechen – aber nur unter der Voraussetzung, dass ich ihn als Mensch näher kennen lernen könnte, um für die Trauerrede ein vollständiges Bild von ihm zu haben. Dazu müssten wir uns wohl ein paar Mal treffen.
    »Einverstanden«, antwortete er.
    Ich bog in seine Straße ein.
    Zu diesem Zeitpunkt wusste ich über Albert Lewis nur so viel, wie man als Zuschauer über einen Schauspieler weiß. Ich kannte seinen Sprechstil, seine Bühnenpräsenz, seine kraftvolle Stimme und seine ausdrucksstarken Gesten, das Charisma, mit dem es ihm gelang, seine Gemeinde in Bann zu schlagen. Sicher, als Kind hatte ich ihn auch aus der Nähe erlebt, als Lehrer und bei familiären Anlässen wie der Hochzeit meiner Schwester und dem Begräbnis meiner Großmutter. Aber in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatte ich kaum etwas mit ihm zu tun gehabt. Und was weiß man schon über seinen Geistlichen? Man hört ihm zu. Man achtet ihn. Aber als Mensch? Für mich war mein Rabbiner so fern wie ein König. Ich hatte noch nie in seinem Haus gegessen. Ich hatte mich nie in gesellschaftlichem Rahmen mit ihm unterhalten. Wenn er menschliche Schwächen hatte, so kannte ich sie jedenfalls nicht. Seine Gewohnheiten? Auch die waren mir unbekannt.
    Nun, das stimmt nicht ganz. Eine kannte ich doch: Er sang gerne. Das wusste jeder in der Gemeinde. Seine Predigt konnte plötzlich zur Arie geraten. Und wenn man sich mit ihm unterhielt, trällerte er manchmal unversehens ganze Sätze. Er war eine Art Ein-Mann-Broadway-Show.
    Wenn sich jemand nach seinem Befinden erkundigte, kniff er die Augen zusammen, hob die Hand, als wolle er ein Orchester dirigieren, und schmetterte:
    »Der alte graue Rabbi
    ist auch nicht mehr, was er mal war,
    ist auch nicht mehr, was er mal war …«
    Ich trat auf die Bremse. Was machte ich hier? Ich war auf keinen Fall der Richtige für diese Aufgabe. Ich war nicht mehr religiös. Ich lebte nicht einmal mehr in diesem Bundesstaat. Albert Lewis war der Mann, der bei Begräbnissen Reden hielt, nicht ich. Wer hält schon die Trauerrede für einen Mann, der selbst Trauerreden hält? Ich wäre am liebsten umgekehrt und hätte mir eine Ausrede ausgedacht.
    Der Mensch will vor Gott davonlaufen.
    Doch ich war in der anderen Richtung unterwegs.

Bekanntschaft mit dem Rebbe

    I ch ging den Weg zum Haus entlang und blieb vor der Haustür stehen. Um die Fußmatte herum lagen Gras und welke Blätter. Dann drückte ich auf die Klingel. Sogar das fühlte sich merkwürdig an. Vermutlich hatte ich angenommen, dass ein heiliger Mann keine Klingel an der Haustür hat. Andererseits: Was hatte ich erwartet? Er wohnte in einem Haus. Wo denn sonst? In einer Höhle vielleicht?
    Da ich schon keine Klingel vermutet hatte, war ich erst recht nicht gefasst auf den Anblick, der sich mir dann bot. Der Mann, der mir die Tür öffnete, trug Socken zu Sandalen, lange Bermuda-Shorts und ein über die Hose hängendes kurzärmliges Button-down-Hemd. Ich hatte den

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