Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
seine.
»Bittest du Jesus, in dein Leben zu treten?«
»Ich bitte ihn.«
»Willst du, dass ich mit dir bete?«
»Ja«, flüsterte Henry.
Es war ein warmer Abend, und die Sonne ging gerade unter. Henry spürte die weiche Stirn des Mädchens und ihre Hand, die seine Hand festhielt, und er hörte die Gebete, die sie an seinem Ohr flüsterte. Das musste die Erlösung sein, und er fand sie wunderbar.
Am nächsten Tag bekam ein Freund von ihm eine Luftpistole geschenkt, und sie versuchten, damit Frösche totzuschießen.
APRIL
Haus des Friedens
I ch fuhr langsam durch den leichten Frühlingsregen. Für das zweite Treffen hatte ich den Rebbe gebeten, ihn bei der Ausübung seines Berufs erleben zu können, denn wenn man etwas über einen Verstorbenen sagen soll, muss man schließlich wissen, wie er gearbeitet hat, nicht wahr?
Es fühlte sich sonderbar an, durch die Vorstadt zu fahren, in der ich aufgewachsen war. Damals war sie eine verschlafene mittelständische Wohngegend in New Jersey gewesen, in der Kirchenglocken läuteten, Väter zur Arbeit gingen und Mütter kochten – und ich hatte es kaum erwarten können, endlich von dort wegzukommen. Nach der elften Klasse schloss ich die Highschool ab, studierte bei Boston, zog nach Europa und später nach New York. South Jersey erschien mir zu beengt für alles, was ich erreichen wollte im Leben – es fühlte sich an, als müsse man hier sein Leben lang Schuluniform tragen. Ich dagegen wollte reisen, Menschen aus aller Welt kennenlernen, in aufregenden unbekannten Städten leben. Ein »Weltbürger« sein – diesen Ausdruck hatte ich irgendwo gehört, und er gefiel mir.
Und nun fuhr ich mit Anfang vierzig durch meine einstige Heimat. An einem Lebensmittelgeschäft hing im Fenster ein Schild mit der Aufschrift »Wassereis«. Als Kinder waren wir verrückt nach dem Zeug, das es mit Kirsch- oder Zitronengeschmack gab; ein kleines kostete zehn Cent, ein großes einen Quarter. Ich habe es nirgendwo anders gesehen.
Ein Mann trat aus dem Laden und leckte an einem Becher Wassereis, und ich fragte mich plötzlich, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich hiergeblieben wäre und mir auch als Erwachsener noch Wassereis holen würde.
Ich verdrängte den Gedanken rasch wieder. Schließlich war ich aus gutem Grund hier und hatte eine Aufgabe. Wenn die erledigt war, würde ich wieder nach Hause zurückkehren.
Der Parkplatz vor der Gemeinde war fast leer. Ich ging auf das Gotteshaus mit dem hohen gläsernen Bogen zu. Es löste jedoch keine Erinnerungen in mir aus, denn dies war nicht mehr die Gebetsstätte meiner Jugend. Wie viele Kirchen und Synagogen in den Vorstädten war auch unsere Gemeinde, Temple Beth Sholom (was »Haus des Friedens« bedeutet), vielfach umgezogen und im Laufe der Jahre immer weiter gewachsen, während sie ihren Mitgliedern folgte, die in gehobenere Wohngegenden gezogen waren. Früher hatte ich geglaubt, eine Kirche oder eine Synagoge seien wie ein Berg, unverrückbar und mit einer festen Form. Doch in Wirklichkeit verändern sich Gotteshäuser mit ihren Gläubigen. Sie werden gebaut und dann wieder umgebaut. Unser Gemeindehaus hatte sich von einem viktorianischen Haus in ein ausladendes modernes Gebäude mit geräumiger Vorhalle und neunzehn Klassenzimmern und Büros verwandelt. Auf einer Tafel in der Vorhalle waren die Namen der großzügigen Spender aufgeführt, mit deren Hilfe man die einzelnen baulichen Veränderungen verwirklichen konnte.
Mir hatte das beengte Backsteinhaus meiner Kindheit, wo einem Küchengerüche in die Nase stiegen, sobald man durch die Hintertür hereinkam, viel besser gefallen. Es war mir so vertraut gewesen wie meine Westentasche. Sogar die Besenkammer, in der wir uns als Kinder immer versteckt hatten.
Und in der ich mich auch einmal vor dem Rebbe versteckt hatte.
Doch was bleibt schon unverändert im Leben?
Nun erwartete der Rebbe mich in der Vorhalle. An diesem Tag trug er ein normales Herrenhemd und ein Sportsakko. Er begrüßte mich, indem er eine abgewandelte Version des Refrains von »Hello, Dolly« schmetterte:
»Helllooo, Mitchell,
Well, hellooo, Mitchell,
It’s so nice to have you back
Where you belong …«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Wie lange ich diese Musical-Nummern ertragen konnte, war mir nicht so ganz klar.
Ich erkundigte mich nach seinem Befinden, und er sagte, er habe öfter Schwindelanfälle.
Ich fragte, ob sie bedenklich seien.
Er zuckte die Achseln.
»Ich will’s mal so sagen«,
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