Danach
mir leid … so unendlich leid … ich …«, war alles, was ich stammelnd hervorbrachte.
In diesem Moment hörten wir ein neues Geräusch. Es kam vom vorderen Teil des Hauses.
38
Wir hörten, wie sich Schritte näherten, und drehten uns zur Tür um, die Adele halb offen gelassen hatte. Der schattenhafte Umriss einer Frau schwebte wie ein Gespenst über dem Boden. Als die Frau schließlich zur Tür hereinkam, sah ich, dass sie eine Pistole in der Hand hielt.
»Sylvia!«, rief Ray.
Ich traute meinen Augen nicht. Zuerst drehte sich das Zimmer um mich herum, dann verschwand es vollkommen, und mir wurde schwarz vor Augen. Eine Welt brach für mich zusammen, tausend Welten. Was ich sah, war so verwirrend, dass mein Verstand es nicht verarbeiten konnte. Sosehr ich mich auch bemühte, ich kam einfach nicht auf die Lösung.
»Das ist nicht Sylvia«, stammelte ich schließlich und spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. »Das … das ist Jennifer!«
»O Gott«, hörte ich Christine hinter mir sagen. Auch Tracy stand fassungslos da und brachte nur ein leises »Was soll das?« heraus.
»Natürlich ist das Sylvia«, wiederholte Ray mit beinahe flehender Stimme.
Die Frau mit der Pistole kam näher.
»Alle auf den Boden und Hände hoch«, befahl sie.
Ich war verwirrt, orientierungslos, entzweigerissen, und dennoch war die vorherrschende Empfindung Freude. Zum ersten Mal seit unserer Entführung vor all den Jahren fühlte ich mich wieder vollständig. Die Frau mit der Pistole war wirklich Jennifer. Wir waren endlich wieder vereint, und alles dazwischen konnte nur eine Abweichung gewesen sein, eine Anomalie, ein dreizehn Jahre währender Umweg, der nun wieder in ein gemeinsames Leben mündete. Ich wollte zu ihr rennen, die Arme um sie schlingen, ihr ins Ohr flüstern, genau wie früher. Sie war in Sicherheit. Wir waren beide in Sicherheit. Wir lebten noch.
Ich flüsterte ihren Namen, weil ich nicht anders konnte. Ich glaubte, dass sie die Waffe beiseitelegen würde, sobald ihr klarwurde, dass ich es war. Dann konnten wir nach Hause gehen und die letzten dreizehn Jahre vergessen, konnten eine neue Niemals-Liste schreiben und uns genauestens daran halten, würden für immer gemeinsam in Sicherheit sein. Undenkbar, dass sie diejenige war, die uns erneut in diesem Haus einsperrte. Bestimmt hatten wir nur etwas falsch verstanden. Es musste eine andere Erklärung geben.
Aber sie hielt die Pistole unbeirrt auf uns gerichtet, und wir beeilten uns, ihrer Forderung nachzukommen.
Dann entdeckte ich aus dem Augenwinkel, dass die Haustür hinter Jennifer weit offen stand. Obwohl ich noch immer unter Schock stand, fing mein auf Selbsterhaltung gepolter Verstand sofort an, meine Chancen abzuwägen. Wie konnte ich es an Jennifer vorbei zur Haustür schaffen? Noch während ich darüber nachgrübelte, ging mir auf, dass ich schon wieder nur an meine eigene Rettung dachte und die anderen ihrem Schicksal überließ. Natürlich hätte ich sie auch diesmal gerettet, sobald sich die Gelegenheit ergab, aber mehr auf einen nachträglichen Einfall hin und in jedem Fall erst, nachdem ich mich selbst in Sicherheit gebracht hatte.
Mir wurde plötzlich bewusst, in was für einen egoistischen Menschen ich mich verwandelt hatte. Tracy und Christine hatten recht. Was hatte Jack Derber nur aus mir gemacht? Traurig beschloss ich, jeden Widerstand aufzugeben. Es war mir egal, was nun mit uns passierte.
Aber dann meldete sich doch wieder mein Kampfgeist und verdrängte die Verzweiflung. Nein, dachte ich, ich will leben. Ich muss stark sein, und ich muss verstehen, wie es zu all dem gekommen ist.
»Jennifer, ich dachte … ich dachte, du wärst tot. Die Leiche … die mit mir in dieser Kiste in der Scheune lag …«, stammelte ich.
»Ja, ich weiß, dass du das dachtest. Aber es gab noch andere Leichen, Sarah. Das war nicht ich in der Kiste.«
» Andere Leichen? Und wo warst du zu dem Zeitpunkt?« Nur langsam sickerte die Erkenntnis zu mir durch, dass sie über alles Bescheid gewusst hatte. Ich hatte geglaubt, ich sei eine Verräterin und Überläuferin gewesen, dabei hatte es Jennifer in dieser Disziplin viel weiter gebracht als ich. »Wusstest du … wusstest du etwa, dass er mich in diese Kiste gesperrt und zurückgelassen hat?«
Jennifers Blick flackerte, und ich begriff endlich, dass sie alles gewusst, bestimmt sogar geholfen hatte, die Spuren zu beseitigen.
Tracy hatte die erhobenen Hände ein Stück gesenkt, und Jennifer richtete sofort
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