Dance of Shadows
stehen.
Ihr Vater krempelte sich die Ärmel hoch, nahm ein Ballettschläppchenvon der Kommode und spielte mit den Bändern. In seinen Händen wirkte der Schuh unglaublich klein. »Ness, wenn du hier nicht glücklich bist, kannst du es mir jederzeit sagen, das weißt du.«
Eine Gruppe Mädchen ging schwatzend und kichernd an der Tür vorbei. Vanessa biss sich auf die Lippe und wünschte sich, sie wäre genauso gern hier wie diese Mädchen. Die New Yorker Ballettakademie war die beste Tanzschule im ganzen Land. Vanessa hätte eigentlich glücklich sein müssen, hier zu sein, aber sie war mit dem Herzen nicht bei der Sache – zumindest nicht in der letzten Zeit. Ihre ältere Schwester Margaret hatte das Ballett immer geliebt, sie hatte noch im Schlaf Schrittfolgen memoriert und oft geträumt, dass sie auf der Bühne stand. Vanessa trat nur in Margarets Fußstapfen.
Sie hatte schon ihre ganze Schulzeit hindurch mehr Zeit im Übungsraum an der Ballettstange verbracht als mit ihren Freunden. Ein Teil von ihr wollte nichts lieber, als auf eine ganz normale Highschool zu gehen und mit ihren Freunden Cheeseburger zu essen, ohne dass sie deswegen Schuldgefühle haben musste. Sie hätte sich gerne mal mit einem netten Jungen verabredet, der nichts mit Tanzstrumpfhosen zu tun hatte. Und eine Zeit lang hatte sie gedacht, es wäre tatsächlich möglich, aber alles hatte sich verändert, als die Sache mit Margaret passiert war.
Vanessa seufzte. »Du weißt doch, dass ich hier nicht weg kann.« Sie warf einen kurzen Blick zur Tür. »Es ist schlimm für sie, aber sie ist nicht die Einzige, die etwas verloren hat.«
»Sie hat Angst um dich. Dieser Ort ist ihr nicht geheuer.« Ihr Vater legte das Schläppchen sorgsam zurück auf die Kommode.
»Mach dir keine Gedanken, Dad. Es ist doch nur eine Schule«, sagte Vanessa.
»Das weiß ich auch. Aber deine Mutter glaubt … na ja, du weißt ja, was sie denkt. Es wäre ihr lieber, wenn du irgendwo anders wärst. Ich unterstütze dich in deinem Wunsch, hier zu sein, wenn duglaubst, dass es so für dich am besten ist. Ich habe immer gesagt, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft bestimmen darf. Aber wenn es dir hier zu viel wird und du dich nicht zurechtfindest, dann kannst du jederzeit nach Hause kommen. Dann schlägst du einfach einen anderen Weg ein.«
Ihr Vater lächelte ein wenig schief und klopfte Vanessa auf die Schulter. Sie verstand, was er ihr sagen wollte – aber welche Möglichkeit hatte sie sonst? Ihre Großmutter war Primaballerina gewesen, ihre Mutter war Primaballerina gewesen, und Margaret war eine der vielversprechendsten Schülerinnen gewesen, die diese Schule je besucht hatten.
Bis sie vor drei Jahren verschwunden war.
Vanessa konnte sich noch gut erinnern, wie das Telefon geklingelt hatte. Es war Februar gewesen, und in ganz Massachusetts fiel Schnee, auch vor dem Küchenfenster, wo sie und ihre Eltern beim Abendessen saßen. Ihre Schwester sei fortgelaufen, hatte der Anrufer zu ihrer Mutter gesagt. »Sie hat sich mit den falschen Leuten eingelassen«, fügte er hinzu. »Der Druck, den das Ballett erzeugt, führt manche Mädchen auf einen falschen Weg, so sehr wir das auch zu verhindern suchen.«
Ihre Eltern setzten Vanessa noch in derselben Nacht bei den Großeltern ab und fuhren nach New York, um Margaret zu suchen. Tagsüber unterstützten sie die Polizei bei der Suche, nachts zogen sie durch die Stadt und durchkämmten die dunkelsten und trostlosesten Ecken. Nach ein paar Wochen kehrte ihr Vater zurück, weil er wieder arbeiten musste, fuhr aber an den Wochenenden zu seiner Frau, die dablieb und weitersuchte.
Nach sechs Monaten gaben ihre Eltern auf und kamen zurück nach Hause, um sich um ihre verbliebene Tochter zu kümmern. Margarets Sachen wurden ihnen nach Hause geschickt und in der Garage gelagert.
Vanessa wollte daran glauben, dass Margaret irgendwo lebte, wo es ihr gut ging, wo sie mit Freunden Spaß hatte und ein Leben als normaler Teenager führte.
Dann bekamen sie ein letztes Päckchen von der New Yorker Ballettakademie. Darin waren Margarets Schülerausweis, ein Trikot, das noch immer schwach nach Blumen duftete, und ein abgenutztes Paar Spitzenschuhe. Diese Sachen hatten noch in ihrem Schließfach im Umkleideraum gelegen. Vanessas Mutter weinte, als sie das Päckchen öffnete und sah, dass Margaret ihre Initialen in die Sohlen der Schuhe – ein Geschenk von ihrem alten Lehrer in Massachusetts – geritzt hatte. »Und wenn sie tot
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