Dance of Shadows
ich morgen
nicht
zum Times Square gehen.«
»Was ist denn gegen den Times Square einzuwenden?«, fragte Steffie.
»Nichts, wenn man ein Tourist ist.«
»Ich bin ja auch ein Tourist. Ich habe nicht mein ganzes Leben hier verbracht wie gewisse andere Leute.«
Alle drei schauten aus dem Fenster, wo das Lincoln Center im Licht des späten Nachmittags glitzerte. Der Brunnen in der Mitte des Platzes schoss seine Wasserfontäne hoch in die Luft. Ringsherum lagen prächtige Gebäude. Vanessa kannte sie alle: Das mit den spektakulären Türen beherbergte das New York City Ballett; das mit den hohen Bogenfenstern war die Metropolitan Opera; und das Gebäude mit dem gelben Marmor war die Avery Fisher Hall, der Konzertsaal der New Yorker Philharmoniker. Ihre neue Schule, die New Yorker Ballettakademie, lag versteckt hinter der Avery Fisher Hall, neben der Juilliard School. Sie bestand aus zwei bescheidenen Gebäuden, die jetzt Vanessas neue Heimat werden sollten. Die untergehende Sonne warf einen warmen messingfarbenen Glanz auf alles,was sie sahen – auf den Brunnen und die Gebäude rings um den Platz, auf die hölzernen Wasserspeicher, die überall auf den Dächern der Apartmenthäuser standen, und auf die gläsernen Wolkenkratzer in der Ferne, deren Fenster aussahen wie geschmolzenes Gold.
»Es ist wirklich wunderschön«, sagte Steffie, die ihren leicht knurrigen Tonfall verloren hatte. »Kaum zu glauben, dass das hier für die nächsten vier Jahre unsere Heimat ist. Wir sind hier im Mittelpunkt des Universums.«
»Wir sind
fast
im Mittelpunkt des Universums«, sagte TJ. »Es gibt eine ganze Menge Dinge in New York City, die wir wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Das Lincoln Center ist wie eine kleine, sichere Zone.«
So sicher auch wieder nicht
, dachte Vanessa, aber zu ihren neuen Freunden sagte sie: »Es fühlt sich ganz unwirklich an, findet ihr nicht? Als ob ich morgen früh zu Hause aufwache und feststelle, dass alles nur ein Traum gewesen ist.«
»Warte nur, bis der Unterricht anfängt«, sagte TJ. Sie lächelte und zeigte ihre weißen Zähne. »Es wird sich sehr wirklich anfühlen, wenn wir erst Blasen und blutige Füße haben.«
Instinktiv spannte Vanessa ihre Zehen an, die in Chucks steckten. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach Steffies muskulöse Oberschenkel und TJs kerzengeraden Rücken anstarren, und sie fragte sich, ob die beiden bessere Tänzerinnen waren als sie selbst. Sie war es nicht gewohnt, von so vielen ernst zu nehmenden Tänzern umgeben zu sein – zu Hause war Vanessa immer mit Abstand die beste gewesen.
Aber sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als zwei weitere Schüler hereinkamen. Die eine war ein sehr zierliches Mädchen names Elly, Steffies Zimmergenossin, mit gewelltem blondem Haar und einem Laptop unter dem Arm. Sie hatte einen Jungen asiatischer Herkunft im Schlepptau.
»Wir haben Stimmen gehört und dachten, wir kommen mal rein und sagen Hallo«, sagte der Junge. »Wir beide sind nämlich ganz
wunderbar
, und deswegen müsst ihr uns unbedingt kennenlernen. Ich bin unter dem Namen Blaine bekannt.« Er streckte die Hand aus, hielt sie aber niemandem direkt entgegen, als warte er auf einen Handkuss.
Steffie verzog das Gesicht und setzte sich im Schneidersitz auf die Fensterbank und musterte die Neuankömmlinge.
»Das ist aber nicht sein echter Name«, neckte Elly ihn mit gedehntem Südstaatenakzent. Alles an ihr war süß und zum Anbeißen: ihr blonder Kurzhaarschnitt, ihre Stupsnase, ihr Schmollmund. Sogar ihre Kleider waren aus spitzenartigem Material und rosafarben. Sie stieß Blaine mit dem Ellbogen in die Seite. »Los, sag’s ihnen!«
Blaine schüttelte den Kopf und sah sie von der Seite an. »Wag es ja nicht!«
TJ schob sich ihr lockiges Haar aus dem Nacken. »Und wie heißt du wirklich?«
Blaine wischte ihre Frage beiseite. »Das verrate ich euch nicht.«
»Warum nicht?«, fragte TJ und schaute von Blaine zu Elly. »Ihr hast du’s doch auch schon gesagt.«
»Aber nur, weil wir beide aus dem Süden kommen. Sie versteht mich.«
»Was versteht sie?«, fragte Steffie.
»Dass die Leute da unten seltsamer sind«, sagte Blaine, als ob das jedem klar sein müsste.
»Und breiter«, fügte TJ hinzu.
Blaine zuckte die Schultern. »Das stimmt. Schaut mal, ich bin halb Japaner und halb Mexikaner. Wie viele Leute kennt ihr, die ihre Margaritas mit einem Gläschen Sake runterkippen?«
»Was ist Sake?«, flüsterte TJ Vanessa zu.
»Gar nicht davon zu reden,
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