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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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Das wäre ja wirklich immens viel verschwendete Zeit und vor allem Kraft. Außerdem war man sozusagen
schon fast lebensmüde, wenn man für diese lebensverneinende Erkenntnis so lange ausharrte. Es war also geradezu lebensbejahend, sich schon jetzt das Leben zu nehmen, fand Marie.
    Schließlich hatte sie ziemlich genau fünfunddreißig Jahre ernsthaft und ausdauernd versucht, ihrem Leben Sinn zu geben und etwas Außergewöhnliches daraus zu machen. War es da ihre Schuld, dass sich bis jetzt - zwei Wochen nach ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag - immer noch nichts Entscheidendes ereignet hatte? Dass sie mit Mitte dreißig Single, kinderlos, beruflich unterfordert und gelangweilt war? Dreieinhalb Jahrzehnte ohne nennenswertes Ergebnis - welchem Projekt wurde heutzutage noch eine derart lange Entstehungszeit zugebilligt? In der freien Wirtschaft hätte sie vermutlich schon mit fünf die Segel streichen müssen. Nun gut, der Vergleich hinkte etwas, Karriere und Kinder hätte bis dahin nicht mal ein Hochbegabter schaffen können.
    Spätestens mit Mitte dreißig hatte Marie sich früher immer in einem »fertigen« Leben gesehen. Gut aussehender, liebevoller Ehemann - ganz klar. Zwei bis drei Kinder, von denen das letzte ruhig noch unterwegs sein konnte - selbstredend. Ein ausfüllender Beruf mit Eigenverantwortung, in den sie nach jeder Schwangerschaft relativ problemlos zurückkehren konnte - keine Frage. Ein Haus mit Garten (der Mann, den sie sich erträumt hatte, konnte sich das schon leisten) verstand sich sowieso von selbst. Der obligatorische Hund - na gut, musste nicht unbedingt sein. Dafür vielleicht eine Haushälterin? Optional.
    Und was davon war bis heute eingetreten? Die magische Altersgrenze war überschritten, und Marie hatte
weder Mann noch Kind noch Haus, noch Haushälterin. SPEICHERN. Was sie hatte, war ein Kater … wie die meisten alleinstehenden Frauen, wenn man einem Großteil der aktuellen Frauenliteratur glauben durfte. Zumindest musste sie sich das immer mal wieder von denen anhören, die solche Bücher lasen. Ihr Job als Entwicklerin bei einem Münchner Softwarehersteller war zwar grundsätzlich okay, doch unter dem neuen Chef, der darauf bestand, jeden Arbeitsgang abzusegnen, in keinster Weise mehr eigenverantwortlich. Hatte sie bis vor fünf Jahren noch eigenständig programmieren, analysieren und implementieren können, so fühlte sie sich seit Schmidts Firmeneintritt mehr als seine Handlangerin denn als eine fachkundige Softwareentwicklerin. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht besser aus dem Fotografie-Praktikum nach dem Abitur einen Beruf gemacht hätte. Doch alles in allem hatte sie das Programmieren immer stärker fasziniert, auch wenn die Kamera ein schönes Hobby geblieben war.
    So saß sie nun nach fünfunddreißig Jahren eher weniger interessantem Leben in ihrer langweiligen Zwei-Zimmer-Wohnung in München-Sendling, und ihr einziger Mitbewohner war der braun-weiß getigerte Kater, den sie vor drei Jahren in einem kurzen Anfall von Aktionismus aus dem Tierheim zu sich geholt hatte. Auch der Kontakt zu ihren Eltern war in den letzten Jahren deutlich abgekühlt, zu sehr beschlich Marie immer wieder das Gefühl, dass auch sie zunehmend enttäuscht waren vom Werdegang ihres einzigen Kindes. Wie man es drehte und wendete, die Lebensbilanz an diesem Samstag war mehr als dürftig, fand Marie. Wenn man es über dreieinhalb Jahrzehnte in keinem der erwähnten Punkte zu wenigstens
ein bisschen Überdurchschnittlichkeit gebracht hatte, dann war das schon ein recht akzeptabler Grund, sich umzubringen. Und wenigstens dieses Ende durfte dann nicht mehr mittelmäßig, sondern musste in jedem Fall außergewöhnlich sein.
    Denn was war das Wichtigste an einem anständigen Selbstmord? Für Marie eindeutig der Eindruck, den man damit bei seiner Umwelt hinterließ. Für manch anderen mochte es das Ende des eigenen unerträglichen Lebens sein, nicht jedoch für Marie. Schließlich ging ihr Leben weiter, in den Köpfen der anderen. Immer wieder begegnete man der Vorstellung, nach dem Tod eines Menschen lebe der Verblichene weiter in den Herzen derer, die ihn liebten. Eine äußerst fragwürdige Einstellung, fand Marie. Die Erinnerung an sie sollte nach ihrem sorgfältig inszenierten Ende nicht von wirren Emotionen, sondern von klaren Beurteilungen geprägt sein. Beurteilungen, die sie vor ihrem Ableben zu steuern gedachte. FORMATIEREN.
    Schließlich musste keiner wissen, dass sie es in ihren

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