Dann gute Nacht Marie
Schleife wanderte also direkt in den Mülleimer, der zur schnelleren Entsorgung mitten
im Schlafzimmer platziert worden war. Da klingelte es an der Wohnungstür … unverhofft … am Samstagnachmittag. Unter anderen Umständen hätte sich Marie gefreut, denn wer auch immer es war, er wäre eine willkommene Abwechslung im eintönigen Wochenendeinerlei gewesen. Unter den gegebenen Umständen allerdings empfand sie es zum ersten Mal als Störung. ÖFFNEN …
»Guten Tag, Frau Hartmann, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Natürlich. Der schleimige Herr Ratzek aus dem vierten Stock. War ja klar. Wer sollte auch sonst bei ihr klingeln als diese Nervensäge? SCHLIESSEN … Marie gab dem ersten Impuls, den unliebsamen Besucher abzuwimmeln, nicht nach. Schließlich sollten die Nachbarn nach ihrem Tod möglichst positiv von ihr sprechen, und Herrn Ratzek hatte sie sowieso schon viel zu oft angezickt.
»Nein, nein, Sie stören überhaupt nicht.«
»Ich vertrete in dieser Woche den Hausmeister und müsste Sie in dieser Funktion kurz in Anspruch nehmen. Sie haben vermutlich bemerkt, dass in den letzten Tagen in unserem Haus einige Elektro-Installationsarbeiten durchgeführt wurden …«
Es war Herrn Ratzeks Markenzeichen, erst nach ausführlichen einleitenden Worten inhaltlich zum Punkt zu kommen, was Maries Sympathie ihm gegenüber nicht gerade steigerte. Aber wenn man ohnehin in den Vorbereitungen für das eigene Ableben steckte, konnte man durchaus noch ein paar Minuten mehr als sonst für soziale Kontakte opfern, fand Marie. Zumal ihr diese Kontaktpflege posthum zugutekommen konnte. SPEICHERN.
»… und deshalb müsste ich kurz an Ihren Sicherungskasten.«
Auch Herrn Ratzeks Vortrag nahm irgendwann ein
Ende, doch Marie hatte überhaupt nicht zugehört. Nur einige Bruchstücke der langen Rede dieses Wichtigtuers waren bis zu ihrem Gehirn vorgedrungen: irgendetwas von »Überstrom« und »tödlicher Spannung« infolge der kürzlich vorgenommenen Installationsarbeiten. Für sie in keinster Weise relevant, fand Marie. Herr Ratzek sah das offensichtlich ganz anders. Er eilte an ihr vorbei zu ihrem Sicherungskasten und redete dabei unaufhörlich.
»Ich drehe Ihnen lieber gleich selbst die entsprechende Sicherung heraus, damit Sie sich in keinem Fall in Gefahr bringen. Mit elektrischen Spannungen ist nicht zu spaßen. Dieser Überstrom in Ihrer Küche kann sich bei der kleinsten Inbetriebnahme eines Küchengerätes bereits in einem tödlichen Stromschlag entladen. Und wenn Sie dann nicht rechtzeitig gefunden werden, dann ›Gute Nacht, Marie‹!« Er lachte meckernd über sein einfallsloses Wortspiel und drehte die Küchensicherung heraus.
Spätestens jetzt war sich Marie sicher, dass es genug war mit nachbarlicher Fürsorge und auch mit der Pflege potenzieller posthumer Sympathie. BEENDEN.
Als Herr Ratzek endlich gegangen war, nicht ohne seiner Sorge um Maries Wohl nochmals Ausdruck zu verleihen, indem er die herausgedrehte Sicherung, wie er sagte, »in Verwahrung nahm«, konnte sie sich wieder ihren Aufräumarbeiten widmen. Der Tee war inzwischen kalt. Also schloss sie ihren Wasserkocher im Schlafzimmer an und bereitete einen weiteren Rotbusch-Cocktail. Dabei ergoss sich ein Teil auf den kleinen weißen Flokati, den sie kurzerhand gleich in den bereitstehenden Mülleimer entsorgte. Reinigung lohnte sich schließlich nicht mehr.
Zurück zu den Liebesbriefen. »Ich finde Dich ziemlich nett«, schrieb Thomas in der fünften Klasse. Marie erinnerte
sich gut an das Gefühl, als er wenige Wochen später Carola wohl noch etwas netter fand. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich völlig unbrauchbar, entschied Marie und entsorgte das Schriftstück, ohne es bis zum bitteren Ende gelesen zu haben. VERWERFEN. Und ohne zu wissen, was aus Thomas, der nach der siebten Klasse die Schule gewechselt hatte, geworden war, war es sowieso viel zu risikoreich, seine unbeholfenen Zeilen in der Sammlung zu behalten. Am Ende wohnte er noch bei Mutti und war schon von daher in keinster Weise geeignet, ein gutes Licht auf Marie zu werfen.
Der Nächste auf Amors Literaturliste war Günther, mit dem sie zwei Jahre in der Jugendgruppe der Kirchengemeinde gewesen war. Das »Miteinander-Gehen« dauerte ganze drei Monate und beinhaltete immerhin die ersten Zungenküsse und vorsichtige Berührungen unterhalb der bis dahin unangetasteten Kleiderschicht. Nach einigen Wochen jedoch wurde der sechzehnjährigen Marie klar, dass auch das nicht alles sein
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