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Dann gute Nacht Marie

Titel: Dann gute Nacht Marie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Becker
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posthume Besichtigung des Bades war noch nicht im Entferntesten vertretbar. All die kleinen oder auch größeren Hilfsmittel, mit denen sich Frauen aller Altersgruppen Tag für Tag optisch dem angeblichen Ideal näherzubringen versuchen … Und mit fünfunddreißig gab es schon das eine oder andere Fältchen beziehungsweise Pfündchen, das man lieber losgeworden wäre. Nein, niemand sollte sie später nach ihren diversen allmorgendlichen Restaurierungsversuchen beurteilen. Cellulite-Lotion, Anti-Aging-Cremes, verschiedenste Schlankheitspillen, die enorme Gewichtsreduzierung innerhalb weniger Tage versprachen, mussten ohne Ausnahme entsorgt werden. Nicht, dass Marie dick gewesen wäre. Wenn man sich jedoch mit den Schauspielerinnen und Models maß, die eher einem Strich in der Landschaft als einer Rubensfigur glichen, kam man auch mit etwa sechzig Kilo Körpergewicht schlecht weg. Was im Badezimmerregal bleiben durfte, waren Seife, Parfum (sie sollten sehnsüchtig daran riechen und sagen: »Ja, das ist es. So hat sie immer gerochen. Es wird uns fehlen!«), diverse Schminkutensilien, das Übliche eben. Für einen gebührenden
Abgang musste das Bad natürlich auch noch auf Hochglanz gebracht werden. Keiner sollte sie schließlich für unreinlich halten.
    Für das gesamte Projekt jedenfalls galt: Nachdem alle Habseligkeiten sorgsam aussortiert sein würden, die ein schlechtes oder zumindest nicht perfektes Licht auf sie werfen konnten, würde der Einsatz von ein paar ausgefallenen und interessanten Details das Ergebnis zu einem durchdachten Ganzen abrunden, für das sie sich nach ihrem Tod nicht zu schämen brauchte. Durchschnittliches und Unterdurchschnittliches musste rausfliegen, Überdurchschnittliches betont oder hervorgehoben werden, falls sie überhaupt etwas Derartiges bei ihrer Lebenskosmetik finden würde. Und falls nicht, wären eben Neuanschaffungen nötig.
    Und vielleicht konnte sie mit diesem letzten großen Projekt ganz nebenbei noch einigen verhassten Menschen eins auswischen. Ein letzter Seitenhieb gegen die intrigante Kollegin Renate, ein kleiner Triumph gegenüber Schmidt, eine abschließende Genugtuung im Bezug auf die wenigen Ex-Freunde. Alles noch möglich. Sie hatte die Fäden selbst in der Hand - ein Zustand, der Marie immer am angenehmsten gewesen war. Und die Eltern konnten vielleicht wenigstens im Nachhinein mit ihrer einzigen Tochter und deren Leben ein bisschen zufrieden sein. Wer sonst machte sich mit seinem Ende schon so viel Mühe? Das alles klang jedenfalls nach einem wirklich sinnvollen und Erfolg versprechenden Konzept. SPEICHERN.
    Aber es war auch eine Menge Arbeit, ein derart durchgeplanter Selbstmord. Wenn man bedachte, dass sich Menschen täglich einfach vor einen Zug warfen oder
sich ein Loch in den Kopf schossen, ohne vorher auch nur eine einzige Vorkehrung für ihr »Nachleben« zu treffen. Ziemlich mutig, fand Marie. Wo es doch so viel zu berücksichtigen gab. UNTERSTREICHEN.
    Ihr Selbstmord sollte ein Gesamtkunstwerk werden, wie es die Welt vorher noch nicht gesehen hatte. Nicht ein Selbstmord um des eigenen Ablebens willen, sondern ein Selbstmord zum Zwecke einer entsprechenden Breitenwirkung, des sozusagen posthumen Ruhms für die Verblichene. Blieb nur noch zu hoffen, dass an den christlichen Versprechungen vom Leben nach dem Tod wenigstens ansatzweise etwas dran war, denn sonst würde sie kaum Zeuge des Erfolgs ihrer effektvollen Inszenierung werden können. Doch bis dahin hatte sie ohnehin noch einiges vor sich. Und die Konzentration auf die Planung ihres Ablebens bewahrte sie davor, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen dieser Selbstmord für s ie haben würde. ÜBERSCHREIBEN.
    An diesem sonnigen, blau-weiß behimmelten Samstag war mit einem Abschluss des Projektes »Lebensende« jedoch in keinem Fall zu rechnen. Allein das erforderliche Tuning der eigenen Wohnung würde mindestens das gesamte Wochenende in Anspruch nehmen, die Auswahl von Todesart, -ort und -zeitpunkt weitere zwei Tage, eventuell sogar mehr. SPEICHERN. So konnte sich die Organisation des Ganzen fast zu einer lebensverlängernden Maßnahme für Marie entwickeln. Was aber nicht weiter schlimm war, denn immerhin würde danach alles exakt nach ihren Vorstellungen sein. Und das war schließlich Sinn der Sache. Also erst einmal kein Selbstmord an diesem äußerlich makellosen Oktober-Samstag.

2
    DOKUMENT2. Marie begann ihre Zensur mit der Wahl der entsprechend bequemen Kleidung, die es ihr ermöglichen

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