Dann gute Nacht Marie
die Schuhschachtel gewandert, wo sie schon seit zehn Jahren ein finsteres Dasein fristeten.
ANSICHT. Gedankenverloren drehte Marie die blecherne Spieldose in ihren Händen hin und her. »Wo ich mit dir doch den absoluten Glückstreffer auf dem Rummel getan hab«, hörte sie ihn noch sagen (er sagte Rummel, was Marie bis dahin noch nie gehört hatte), als er ihr das kleine Karussell schenkte. Genau ein Jahr zuvor war es auf einem örtlichen Volksfest zum ersten Kuss zwischen ihnen gekommen. »Eigentlich schade, Kasimir.« Ihr Kater hatte sich neben die ausgebreiteten Hinterlassenschaften gelegt, leckte sich die Pfoten und nahm von Marie keinerlei Notiz. ANSICHT SCHLIESSEN.
Nun war es aber an der Zeit, den Zweck der Übung nicht aus den Augen zu verlieren und die Lebenszensur fortzusetzen. Die Trennung von Ben war nicht mehr rückgängig zu machen, das von ihm Gebliebene jedoch durchaus gewinnbringend zu nutzen. Die Briefe von Ben waren poetisch, aber nicht kitschig, also bestens geeignet zur posthumen Imagepflege. Schließlich war Ben inzwischen, wie Marie wusste, Chef eines nicht gerade unbedeutenden Softwareunternehmens und im letzten Jahr von einer Wirtschaftszeitschrift zum »Manager des Jahres« gewählt worden. Es konnte also nichts schaden,
seine vormaligen Liebesbeteuerungen sorgsam zu archivieren. SPEICHERN.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
Kasimir schreckte aus seinem Mittagsschläfchen auf, das er in einem Sonnenfleck auf dem Schlafzimmerteppich genossen hatte. Interessiert betrachtete er Marie, die Bens Briefumschläge einen nach dem anderen missgelaunt betrachtete. Sie enthielten keinerlei Absender, was für Liebesbriefe nicht unüblich war, wenn man sie sich während der Vorlesung in der Uni zusteckte. Wie aber sollte die Nachwelt von Maries intensiver Beziehung zu einem ebenso gut aussehenden wie intelligenten »Manager des Jahres« beeindruckt sein, wenn sie die Verbindung von ihm zu diesem nachnamenlosen Ben von vor zwölf Jahren nicht herstellen konnte? Dem musste abgeholfen werden, dafür war diese Töpfchen-Kröpfchen-Nummer schließlich da, fand Marie. OPTIONEN …
Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste die Umschläge mit dem vollen Namen des Absenders versehen. Ben Bergemann. Keine leichte Aufgabe für jemanden, der nicht einmal zu Schulzeiten die Unterschrift der Eltern unter der Klassenarbeit nachgeahmt hatte. Aber kurz vor Lebensende war genau der richtige Zeitpunkt für eine erste und wohl auch letzte Urkundenfälschung; schließlich hatte man danach keine Gelegenheit mehr dazu. FORMAT. ZEICHEN. Zunächst studierte Marie akribisch Bens ebenso schwungvolle wie gleichmäßige Handschrift, deren Buchstaben wie perfekt gepustete Luftschlangen aneinandergereiht waren. Vom Anfang bis zum Ende eines Wortes schien sein schicker Füller, an den sie sich noch sehr gut erinnern konnte, auch nicht für den kleinsten Moment abgesetzt zu haben.
Kurz nachdem Ben und sie zusammengekommen waren, hatte sich Marie einen ähnlichen Füller gekauft, weil Ben ihr immer wieder erklärt hatte, dass Kugelschreiber das Schriftbild verschlechterten. Nach der Trennung hatte sie ihn natürlich sofort entsorgt, was sich nun als extrem ungünstig erwies. Zum einen hätte er jetzt ihrer Fälschung Glaubwürdigkeit verliehen. Zum anderen fiel ihr aufgrund ihres über die Jahre durch Kugelschreiber verschlechterten Schiftbildes die Nachahmung der »Schriftzüge des Jahres« besonders schwer. Mit ihrem Schulfüller, den sie ganz hinten in einer Schublade fand, versuchte sie ihr Glück wieder und wieder. Ein Mal verrutschte das »e« infolge einer ungücklichen Handbewegung, ein anderes Mal entglitt die Feder beim »m«. WIEDERHOLEN.
Nachdem sie mehrere Blätter eines Din-A4-Collegeblocks mit Bergemanns gefüllt hatte, fühlte Marie sich in der Lage, einen Briefumschlag seiner Jungfräulichkeit zu berauben. Kasimir hatte sich wieder zusammengerollt, als sie ein rotes Kuvert mehrmals umwendete, um den besten Platz für den wichtigen Absender zu suchen. An welche Stelle hätte wohl Ben seinen Namen gesetzt? Und wo würde der wichtige Zusatz von den Rezensenten der Briefe am ehesten bemerkt? Marie entschied sich für die Platzierung auf der Rückseite des Kuverts in der Mitte der Einstecklasche. KOPIEREN. EINFÜGEN. Mit möglichst flüssigen Bewegungen setzte sie ihre Luftschlangen auf das leicht raue Papier. Nicht schlecht. Von Mal zu Mal wurden ihre Bewegungen sicherer und das Ergebnis besser. Und so entstanden in
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