"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Fotos von mir, Nacktfotos, die mein Freund Volki in Südafrika von mir gemacht hat, zu den allerschlimmsten Zeiten. Ziel und Idee bei diesen Bildern war, dass sie mich nachhaltig schocken und aufrütteln sollten. Mir vor Augen führen, was ich mir antat. Volki sah die Bilder als Erster an. Zuerst schwieg er offensichtlich in tiefer Bestürzung, dann begann er zu weinen und zu reden. Solche Körper, solche Bilder habe er zuletzt »in Filmen über Konzentrationslager« gesehen. Und bei allem Respekt vor den Opfern dieser schrecklichen Zeit: Rein objektiv muss man ihm wohl recht geben. Ich sehe auf diesen Bildern aus wie eine verhungerte Leiche mit zerzausten Haaren. Es entsteht automatisch beim Betrachter die Frage: Wie kann dieser Mann selbst stehen und in die Kamera blicken? Und wie kann der Blick eines Lebenden so tot sein?
Genug Schockeffekt also? Nein. Ich stehe diesen Fotos völlig gelassen gegenüber. Ich fragte mich damals: Was hat der denn? So schlimm ist das doch gar nicht. Mittlerweile weiß ich, dass es schlimm ist. Aber sehen kann ich es noch immer nicht.
Entstanden ist dies alles aus der puren Angst heraus, wieder dick zu werden, und aus der Erinnerung an diese mitleidigen, schwerwiegenden Demütigungen des Alltags.
Aus der Erkenntnis, dass ich nur den Schalter umlegen muss, um schön Gewicht zu verlieren, immer ein wenig mehr. Aus diesem herrlichen Gefühl absoluter Kontrolle, dem Leben nach strikten Ritualen und unabänderlichen Rhythmen, Grenzen, Regeln, Zwängen. Iss dies und so viel, und lass das, dann brauchst du nicht weiter zu denken. Dann ist alles gut.
Also folge ich ironischerweise genau jenen Regeln, wie sie uns Diätbücher und Fitnesszeitschriften jeden Tag vorbeten. Und ich war drauf und dran, ewig so weiterzumachen.
Nach dem Zusammenbruch im Dezember jedoch begann tief unten in mir etwas zu wachsen. Der zarte Keim einer Pflanze. Ein Stimmchen des Zweifels verschaffte sich Gehör, und es fragte vorsichtig an, ob das denn alles wohl so richtig und sinnvoll sei, was ich da tat. Noch längst war ich nicht bereit, dieser Pflanze Nahrung zu geben, sie großzuziehen oder auf irgendwelche Stimmen zu hören, die etwas anderes sagten als »Iss das nicht, du wirst fett!«.
Ich spürte dieses fremde Neue, wie ein Jucken verursachendes Haar, das nach dem Friseurbesuch im Kragen hängenblieb. Ein kleiner Störenfried, mehr nicht. Ein winziges Haltesignal, aber keine Weiche oder Bremse.
Es sollte noch ein bisschen dauern, bis ich eine Spur Vernunft annahm, es brauchte noch ein paar dieser berühmten leidvollen Erfahrungen. Um ehrlich zu sein, brauchte es noch einen ganzen Sack davon. Ich glaube fest daran, dass es keine Zufälle gibt, und deshalb ist es für mich nicht nur eine Ironie des Schicksals, dass dieser Sack ausgerechnet in der Stadt geschnürt wurde, die ich von allen auf diesem Planeten am meisten liebe.
Zimmerservice
Vancouver – letzte Station vor der Klinik
Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Möglichkeit, rein beruflich fast zwei Wochen in Ihrer Traumstadt zu verbringen. Sagen wir, diese Stadt wäre Vancouver, British Columbia, Kanada. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass in dieser Zeit diese Stadt von einem der größten Sportereignisse auf diesem Planeten durchgewirbelt wird: den Olympischen Winterspielen zum Beispiel. Stellen Sie sich vor, all das liegt offen und greifbar vor Ihnen – die Stadt, die Events, die Menschen, der Trubel, der Glamour, die Freude, die Spannung, all das geballte Glück – und alles, woran Sie denken können, ist, wie Sie sich ausreichend Magerquark organisieren können und wo die nächste Toilette ist.
Es wurde eine der schlimmsten Zeiten meines Lebens. Ich sage völlig uneitel die absolute Wahrheit, wenn ich behaupte, dass sich wahrscheinlich keiner der Athleten so sehr für diese Olympischen Spiele gequält hat wie ich. Sie werden es mir kaum glauben, aber ich habe tatsächlich diese knapp zwei Wochen in meiner geliebten Traumstadt Vancouver gelitten wie ein Schwein. Und ich gestehe hiermit öffentlich: Ja, ich habe die zwölf Tage dort komplett in meinem hässlichen, tristen, überteuerten Hotelzimmer verbracht. Und ich habe das olympische Motto in leichter Abwandlung gelebt: In der Nähe sein ist alles.
Die Welt war anwesend, um gemeinsam ein fröhliches Fest zu feiern, Freunde zu finden, Spaß und sportlichen Lorbeer. Ich habe Magerjoghurt gesucht. Nur an den Abenden war ich für wenige Stunden im Deutschen Haus des Olympischen Sportbundes
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