"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Jetzt sitze ich morgens 75 Minuten auf dem Bike. Ich könnte noch länger. In mir will es noch länger. Wissen Sie, wie lang das Morgenmagazin geht?!
Natürlich habe ich mir die Frage gestellt: Ist das sinnvoll? Die wenigen Kalorien, die ich zu mir nehme, auch sinnlos zu verbrennen?
Meine Antwort darauf vergesse ich jedes Mal ganz schnell.
Aber was von meinen Tätigkeiten, von denen Sie bisher hier gelesen haben, war denn bitte sinnvoll?
Nach dem Radfahren beginnen die Lasten des Alltags von Neuem. Auf dem Rad soll es ja anstrengend sein, außerdem beflügeln Endorphine meinen ansonsten flügellahmen Körper.
Nur: Den ganzen Tag Sport treiben und hungern – davon kann kein Mensch seinen Lebensunterhalt bestreiten. Nun könnte man sagen: Gut, der braucht ja nicht viel … Sehr komisch. Ich brauche vielleicht nicht viel zu essen – aber auch ein Magersüchtiger muss irgendwo wohnen, sich kleiden und die wenigen Kalorien bezahlen, die er braucht. Außerdem verschlingt Anna das Geld geradezu. Denn sie will verwöhnt werden. Sie nimmt hin und verlangt schon nach der nächsten Belohnung. Ich kaufe alles im Übermaß: Gewürze, Tiefkühlobst, Tee – all das, von dem ich denke, ich brauche es, und morgen – die Panik kriecht nach oben – ist es dann vielleicht nicht mehr da. Und dann? Also, lieber mal mitnehmen. Selbst Käse, den fettarmen Harzer natürlich, denn könnte ja sein, dass ich irgendwann … Zeitschriften über die Gegenden, Wunder und Genüsse dieser Welt, und, und, und. Ich muss also mächtig ranschaffen. Ich investiere viel in diese Krankheit. Viel zu viel. Es wäre bedeutend günstiger, für meine Gesundheit zu bezahlen.
Also arbeite ich sehr viel mehr, als ich müsste. Wäre ich angestellt, wäre ich wahrscheinlich bis zu meiner Genesung krankgeschrieben oder zumindest auf Teilzeit gesetzt.
Das würde mich aber umbringen, darum bin ich froh, dass ich mittlerweile selbstständig bin. Was mich umbringen würde? Die Langeweile. Denn wer sich langweilt, horcht in sich hinein. Er spürt seine Bedürfnisse. In meinem Fall bedeutet das: Ich spüre den Hunger, ich höre meinen Körper nach Essen rufen, ach was, ich höre ihn danach BRÜLLEN .
Natürlich habe ich Hunger. Die ganze Zeit, 24 Stunden am Tag, 1440 Minuten, 86 400 Sekunden habe ich Hunger. Der Gedanke an Essen verfolgt mich, und in mir ist ständig der Gedanke, wie ich den Lebensmitteln entkomme. Ablenken steht auf der Agenda. Immer weiter ablenken – und das geht am besten mit Arbeit. Meist mit sinnvoller Tätigkeit und manchmal auch mit weniger sinnvoller. Manchmal auch mit purem Aktionismus. Also schreibe und beantworte ich fast die gesamten 20 Stunden meines Wachseins Mails, lese und präpariere Präsentationen, telefoniere, fahre zu Terminen, mache, schaffe, ächze, stöhne, funktioniere, wie es irgend geht. Ich definiere mich über Arbeit. Immer auf Stand-by, das rote Lämpchen leuchtet. Ich kann es nicht abschalten. Es muss brennen. Ich muss parat sein. Ich erwarte es von mir.
Genauso wie ich mich von meinem Hunger ablenke, muss ich versuchen, die Gebrechen meines geschundenen Körpers zu ignorieren. Das fällt immer schwerer, vor allem, weil andere, die mich sehen, allein durch ihre Blicke, nein: ihr Starren eindeutige Hinweise geben, dass etwas nicht stimmt. Ich mogle mich da durch. Die meisten Termine erledige ich telefonisch, spiele virtuos mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Ohne Web 2.0 wäre ich wahrscheinlich verloren. Nichts hilft besser beim Verbergen einer Krankheit als die Kanäle des Internets. Nur in der analogen Welt ist das Leiden offensichtlich. Aber spätestens im Badezimmer wird mein Leben dann wieder zur echten Qual.
Digital duschen geht leider nicht.
Das Abtrocknen, Eincremen, alleine den dicken, schweren Frotteebademantel vom Haken zu nehmen – ohne Kraft ist alles schwer, eine Last, eine Tortur durch den Tag, der einst eine Lust war. Ich sehe an mir runter und frage mich, ob es das wirklich sein kann.
Wenn ich mich nach dem Duschen sehe, erschrecke ich immer noch und immer wieder vor mir selbst. Die Oberschenkel sind dünner als die Knie. Die vielen Wunden am Körper, von denen ich nicht im Geringsten weiß, woher sie stammen könnten.
Aber der Schock hält nie lange vor, geschweige denn, dass er mich dazu brächte, etwas zu ändern. Ich sehe meinem eigenen Verfall mit einer Gelassenheit zu, die jeden Folterknecht in die Verzweiflung und letztlich wohl in die Berufsaufgabe treiben würde. Es gibt
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