1122 - Der Prophet des Teufels
Der Tote, der hier zu Grabe getragen wurde, war ein Mensch ohne großen Anhang gewesen. Er gehörte nicht in die Gegend. Er war hier nicht geboren und aufgewachsen. Er hatte nur hier gearbeitet.
Seine Heimat war der Balkan gewesen, den er hatte verlassen müssen, und so standen auch nur ein paar Kollegen am Grab.
Es war Spätsommer, aber es sah aus wie Herbst. Der Himmel war dunkel. Wolken hatten einen Teppich aus mehreren Schichten gebildet und ließen keinen Sonnenstrahl, durch. Es roch nach Regen, doch noch konnte sich das Wetter halten.
Der Himmel trauerte ebenfalls. Die dünne Totenglocke der nahen Kirche hatte längst geschlagen, und der Priester wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
Er kam sich ziemlich verloren vor. Er hatte den Mann kaum gekannt. Ihm wäre es anders lieber gewesen. Da hätte er dann ein paarpersönliche Worte sprechen können.
Nach einem Gebet überlegte er, was er hinzufügen konnte. Seine Blicke glitten vom Grab weg und über die wenigen Trauergäste.
Ihre Gesichter waren unbewegt. Es gab keinen, der eine Träne vergoss. Arbeitskollegen und Kolleginnen, dazu noch ein Freund aus der Heimat, ansonsten waren keine Verwandten oder Angehörige zur Beerdigung gekommen. Der Weg wäre auch zu weit gewesen.
Der Firmenchef hatte eine Nachricht über den Tod des Mannes nach Serbien geschickt. Das war alles gewesen.
Ein schwacher Windstoß trieb den Geruch von Kakao über den Friedhof. Er stammte aus der Fabrik, in der der Tote zu Lebzeiten beschäftigt war. Man stellte dort Getränke her. Meistens auf der Basis von Milchprodukten. Shakes, Drinks, die sich gut verkauften, denn die Fabrik schrieb schwarze Zahlen.
Endlich hatte der Pfarrer die richtigen Worte gefunden. »Das Schicksal dieses Mannes, ob wir alle es nun wahrhaben wollen oder nicht, wird uns irgendwann selbst einmal treffen. Niemand kennt den Tag, kennt die Stunde und die Minute. Deshalb sollten wir bereit sein und einmal am Tag daran denken, dass es auch uns erwischen kann. Dann wird dieses Leben vorbei sein, und wir sollten uns darauf vorbereiten, irgendwann einmal einem anderen gegen überzustehen.« Er legte eine kurze Pause ein und räusperte sich.
»Die Wege des Herrn sind oft unergründlich. Er bestimmt, wann wir aus diesem Leben geholt werden, und diesmal hat es unseren Mitbruder Ilic getroffen…«
Der Pfarrer unterbrach seine Rede und räusperte sich. Etwas hatte ihn gestört. Es waren nicht die Trauergäste gewesen, die ihn anschauten. An ihre teilnahmslosen Gesichter hatte er sich gewöhnt.
Ihn hatte eine Bewegung am Ende des Friedhofs irritiert. Dort, wo die Bäume dichter standen und das Becken mit dem Wasser nicht weit von der Mauer entfernt stand, war ein Mann aufgetaucht.
Der Geistliche hatte ihn nicht durch das Tor kommen sehen. Er war plötzlich da, und er blieb auch nicht stehen, sondern näherte sich mit langsamen Schritten dem offenen Grab und den Menschen, die sich darum versammelt hatten.
Normalerweise hätte dem Pfarrer das Erscheinen eines Nachzüglers nichts ausgemacht. Hier war es anders. Er konnte sich keinen Reim auf die Gestalt machen, die so gar nicht zu den anderen Menschen passen wollte. In der trotz des wolkigen Himmels klaren Luft war die Gestalt sehr deutlich zu erkennen, und der Pfarrer merkte, wie sein Herz allmählich schneller schlug.
Er wurde nervös. Das Blut stieg ihm in den Kopf und rötete sein Gesicht. Er hätte eigentlich weiter sprechen müssen, tat es jedoch nicht, weil die Gestalt ihn einfach zu sehr ablenkte und auch faszinierte.
Den Trauergästen war die Haltung des Geistlichen nicht verborgen geblieben. Sie überkam ebenfalls eine gewisse Unruhe, und sie schauten sich gegenseitig an, beobachteten den Pfarrer und stellten fest, dass dieser über ihre Köpfe hinweg in eine andere Richtung schaute Diese Tatsache verleitete sie dazu, sich ebenfalls zu drehen.
Sehr vorsichtig, als wären sie von fremden Kräften geleitet.
Eine seltsame Stille war eingetreten. Auf dem Friedhof war es eigentlich immer still, diese Ruhe hier war auch von einer gewissen Spannung erfüllt. Jeder Anwesende merkte, dass etwas nicht stimmte. Der übliche Ablauf der Beerdigung war unterbrochen worden.
Der Pfarrer merkte, wie ein Schweißtropfen unangenehm kalt seinen Rücken hinab rann. Er hatte das Gefühl, in einer Klemme zu stecken. Es war nicht kalt, nicht warm, es war einfach nur schwül. Die Luft drückte, sie roch nach Regen, und der Fremde schien noch einen anderen Geruch
Weitere Kostenlose Bücher