"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
vertrugen sich null mit meinem körperlichen Zustand. Ich merkte noch lange später, dass die Zeit in Vancouver enorm viel Kraft gekostet hatte. Insbesondere die Beine waren sehr schwach. Immerhin: Jetlag hatte ich keinen. Wie eigentlich meistens. Weil ich ohnehin nie richtig schlafe.
Ich konnte also die Stadt, meine Stadt, nicht genießen, überhaupt nicht. Aber was ich heute noch viel schlimmer finde: Es machte mir nichts aus. Ich ärgerte mich nicht einmal darüber.
Da war diese riesige, flächendeckende Gleichgültigkeit in mir. Es rauschte an mir vorbei wie ein Eishockey-Puck nach einem Schlagschuss von der Blauen Linie. Schon wieder einen spannenden Wettbewerb verpasst? Na und? Gar nicht im Zentrum gewesen, gar nicht über die Coal Harbour Promenade flaniert. Es gibt Schlimmeres. Es grämte mich alles nicht. »Kein Süßstoff mehr da, und die Cola light geht aus, nur noch drei Zwei-Liter-Flaschen bis morgen. Um Himmels willen. Ich muss noch mal los.« Das waren Probleme!
Das war das Erschreckende: Ich konnte nicht nur Vancouver nicht genießen, ich konnte gar nichts mehr genießen – und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, etwas zu genießen, so dass es mich hätte ärgern können, wenn ich merkte, dass es mir entging. Ich war nur noch eine stoisch tickende Magerquark-Gemüse-Süßstoff-Maschine, die zu vorgegebenen Zeiten streng regulierte Mini-Mengen an Nahrung zu sich nahm und ansonsten im Sinne des Protokolls funktionierte.
Ich schüttelte Hände im Deutschen Haus, stellte Kontakte her, organisierte Treffen, nickte zu irgendwelchen Vorträgen und Gesprächen und mied die Buffets.
Schließlich kehrte ich nach Deutschland zurück, in meine Stadt, meine Wohnung, meine Küche, und tischte mir denselben nährstofflosen Mist auf wie 10 000 Kilometer weiter westlich. Mein Leben war ein widerlicher Batzen Magerquark, eine farb- und geschmacklose, genussfreie Masse, die mir durch die dürren Finger rann und versickerte.
Mittlerweile war es mir gleichgültig. Natürlich stellte ich mir immer noch und immer wieder dieselben Fragen: Warum will ich so dünn sein? Was will ich dafür alles in Kauf nehmen? Und warum? Wann will ich wieder anfangen zu leben? Aber ich stellte sie nur noch reflexartig, aus Gewohnheit. Einfach so. Irgendeiner musste ja Fragen stellen.
Aber mehr und mehr waren mir auch die Antworten auf diese Fragen egal. Eigentlich wollte ich gar keine mehr. Ich wollte nur noch in Ruhe leben. Leben? Vegetieren.
Vielleicht war es dieser Zustand der Gleichgültigkeit, dieses unbeteiligte Gefühl beim Blick auf das eigene Verrecken, der mir schließlich zumindest einen kleinen Schrecken einjagte: Was nur rauschte da alles an mir vorbei? All das, was ich früher so gemocht hatte: Reisen, Essen, Musik, Lachen, Genuss eben. Es war wie gesagt nur ein kleiner Schreck, aber er war immerhin groß genug, um mich dazu zu bewegen, den nächsten Schritt zu tun. Mir Hilfe zu suchen.
Aber dass ich schließlich doch begann, einen Ausweg aus dieser Hungermühle zu beschreiten, ist nicht mir selbst zu verdanken.
Das resultierte aus der Hartnäckigkeit der Menschen, die mich dazu drängten. Die Druck aufbauten und ihn aufrecht hielten, obwohl ich alles tat, um sie zu ignorieren und wegzubeißen. Das waren vor allem meine Schwester, ihr Mann, der als Arzt all seine Kompetenz und seine Ehre in die Waagschale warf, und nicht zuletzt meine Freundin Steffi, die mich niemals im Stich gelassen hat.
Das weiß ich heute, und dafür bin ich unendlich dankbar. Nun denken Sie aber nicht, dass ich das alles damals schon in dieser Breite erkannte oder überhaupt nur ansatzweise an mich heranließ. Ich habe gesagt, ich war bereit, einen Schritt zu tun. Einen. Und ich tat ihn schmollend, widerstrebend, scheinbar über den Dingen stehend. Fassungslos darüber, dass in meine Privatsphäre eingegriffen wurde, von denen, die ich noch vor wenigen Monaten darin nach Lust und Laune herumtoben ließ. Es waren Menschen dabei, die mich tiefer in ihr Herz geschlossen hatten, als ich es für möglich hielt.
Einfach um meine Ruhe vor den Störenfrieden zu haben, stimmte ich im Frühjahr 2010 zu, für drei Monate in stationäre Behandlung zu gehen. Die Wahl fiel auf die Schön Klinik Roseneck, eine Fach-Einrichtung für Menschen mit Essstörung in Prien am schönen Chiemsee. Zwischen den durch die Empfangshalle herumschlurfenden Magerzombies und der Chiemsee-Promenade mit pfeifender Dampflok, diversen Cafés, Restaurants, Ausflugsschiffchen
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